Die Ausgangssperre als Chance oder: Was wir von Nelson Mandela lernen können.
Was vor einigen Wochen niemand für möglich gehalten hätte, ist nun Wirklichkeit: Ein Virus zwingt uns dazu, unser gewohntes Leben völlig umzustellen. Nun sind wir dazu verdammt oder zumindest verpflichtet zu Hause zu bleiben. Eine Umstellung, die ganz vielen Menschen verständlicherweise grosse Mühe bereitet. Neben dem Hausarrest, belastet auch die Ungewissheit über die Zukunft und über das eigene Wohlergehen, unsere Psyche. Ungewohntheit gemischt mit Ungewissheit ist ein sicheres Rezept für Stress. Die Frage, die sich nun stellt ist, ob wir uns in fatalistischer Weise der Situation ergeben müssen, oder ob wir den momentanen Zustand nicht als Chance nutzen sollten.
Nelson Mandela verbrachte insgesamt 27 Jahre seines Lebens in Haft. Während fast drei Jahrzehnten wurde er seiner Handlungsfreiheit geraubt und seine Zukunft war verborgen in Dunkelheit. Als er als 44jähriger auf der Gefängnisinsel Robben Island ankam, sagte ihm ein Gefängniswärter: „Du wirst hier sterben.“ Kurz nach seiner Einkerkerung auf Robben Island im November 1970 schrieb Mandela seiner Frau was er fühlte, als er das Schiff, welches ihn auf die Insel gebracht hatte, am Horizont verschwinden sah: „Als es langsam wegfuhr, fühlte ich mich ganz alleine auf der Welt.“[1] Mandela umkam in seiner misslichen Situation ein Gefühl des Machtlosseins. Auch wir fühlen uns angesichts der aktuellen, nicht fassbaren Situation in einem gewissen Masse ohnmächtig. Doch sind wir tatsächlich so machtlos, wie es den Eindruck macht?
Im Februar 1975 schrieb Mandela in einem seiner zahlreichen Briefe an Winnie: „...Die Gefängniszelle ist der ideale Ort, um sich selber kennen zu lernen.“ Mandela bewegte in der Gefangenschaft seinen Fokus weg von externen nicht beeinflussbaren Faktoren, hin auf jene Dinge, die er zu kontrollieren vermochte. Dies ist eine der fundamentalen Erkenntnisse der stoischen Philosophie, zu anerkennen, dass wir externe Ereignisse oder Sachen, die uns zustossen, nicht kontrollieren können. Das einzige, worüber wir tatsächlich Macht haben, ist unsere innere Haltung gegenüber den Geschehnissen. Der stoische Philosoph Epiktet sagt es wie folgt: „Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben.“[2] Es kommt also nicht darauf an, was uns widerfährt, sondern, wie wir darauf reagieren. Und, so schrieb der Psychologe und Ausschwitzüberlebende Viktor E. Frankl, man hat immer die Wahl darüber wie man reagieren will. Man könne dem Menschen alles nehmen, so Frankl „nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Und es gab ein ‚So oder so’!“[3]
Bis zu 70 Männer waren zeitweise auf Robben Island in einer Zelle untergebracht. Als Bett diente eine dünne Sisalmatte, die auf dem nasskalten Steinboden ausgerollt wurde. Zu essen gab es ungeniessbare Maispampe. Gearbeitet wurde in einem Steinbruch. Prügel, Beleidigungen und Demütigungen durch die Wärter gehörten für Mandela und seine Mitgefangenen zum Alltag. Doch Mandela hatte sich entschieden, er liess sich durch die rudimentären und menschenunwürdigen Verhältnisse auf Robben Island nicht brechen. Im Gegenteil, er nutze die Zeit um ein besserer Mensch zu werden. Er akzeptierte sein Schicksal nicht nur, er umarmte es. Ganz im Sinn von Nietzsches „Amor Fati“, der Liebe zum Schicksal. Es überrascht denn auch wenig, dass Mandela sich durch William Ernest Henley's 1875 veröffentlichtes stoisches Gedicht "Invictus" während der Gefangenschaft inspirieren liess.
Richard Stengel führte während drei Jahren sehr intime Konversationen mit Nelson Mandela. Die Essenz daraus fasste er in 15 Lebenslehren zusammen und veröffentlichte diese in seinem Buch „Mandela’s Way“[4]. Stengel schreibt, dass das Gefängnis der bedeutendste Lehrer für Mandela war. „Ich wurde ein reife Person“, sagte Mandela über seine Zeit im Gefängnis. Die 27 Jahre in Gefangenschaft haben ihn einerseits abgehärtet und andererseits das Schlechte aus ihm verbannt. Er habe Selbstbeherrschung, Disziplin und Konzentration gelernt. Die Gefangenschaft habe ihn zu einem vollwertigen Menschen werden lassen, so Mandela. Aus einem impulsiven, empfindlichen und zu Verbitterung neigenden Mann, wurde ein beherrschter, reflektierter und grossmütiger Mensch. „Das Gefängnis war sein grosser Lehrer. Es vernichtete viel von seinem Charakter, viel von der jugendlichen Impulsivität und Rücksichtslosigkeit, und lehrte ihn unglaubliche Selbstbeherrschung, denn im Gefängnis war das alles, was er kontrollieren konnte. Es gab keinen Platz für ausbrechende Selbstgefälligkeit oder mangelnde Disziplin“, so Stengel.
Nehmen wir uns Mandela zum Beispiel und nutzen wir die jetzige Zeit, um ein besserer Mensch zu werden. Akzeptieren wir die momentane Realität nicht nur, sondern umarmen diese. Situationen wie derjenigen, die wir gerade durchleben, bringen uns die Chance, dass wir uns, wie Mandela, unserer Kerntugenden, erinnern und uns in diesen üben. Verbessern wir unsere Selbstbeherrschung und Grossmütigkeit, üben uns in Mässigung und nutzen die Zeit um weiser zu werden.
Einige einfache Tipps dazu:
Verbannen sie die sozialen Medien (Facebook, Twitter, etc) aus Ihrem Leben.
Lesen sie nur eine Tageszeitung und verzichten sie auf realtime News aus dem Internet. (Was ändert es in ihrem Leben, wenn sie unmittelbar über jeden Ansteckungsfall auf der Welt informiert sind?)
Nutzen sie die Zeit zu Hause für Dinge, für die ihnen sonst die Zeit gefehlt hat.
Lesen sie, schreiben sie, diskutieren sie (geht auch am Telefon, über Skype etc), schauen sie intelligente Filme und Serien, reflektieren sie.
[1]„The Prison Lettres of Nelson Mandela“; Liveright (2018)
[2]„Handbüchlein der Moral“ von Epiktet
[3]„... trotzdem ja zum Leben sagen“ von Viktor E. Frankl; Kösel (2009)
[4]„Mandela’s Way: Lessons of Life, Love, and Courage“ von Richard Stengel; Crown Archetype (2010)