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Chesterton‘s Zaun oder die Arroganz der Veränderer


Der momentane Zeitgeist ist voller Veränderungsdrang. Vieles was noch vor nicht allzu langer Zeit als tugendhaft oder zumindest vernünftig und normal angeschaut wurde, soll nun abgeschafft oder verändert werden. Macht es wirklich Sinn, alles umzukrempeln, oder haben sich die Menschen in der Vergangenheit bei ihren Entscheiden auch etwas überlegt? Der Schriftsteller G.K. Chesterton liefert uns in diesem Zusammenhang eine tolle Parabel und gleichzeitig eine Wertschätzung des Konservativismus.



Man hat das Gefühl, dass frühere Generationen offensichtlich keinen Verstand, falsche Moralvorstellungen und abstruse Weltanschauungen hatten. Zum Glück, gibt es aktuell Menschen, die sich dem bewusst sind und mit aller Kraft daran arbeiten die Gesellschaft umzugestalten, alte Zöpfe abzuschneiden um die Menschheit in eine bessere gerechtere Welt zu führen.


Jede Politikerin verspricht Wandel und jede neue Führungskraft will in ihrer Organisation Veränderungen durchsetzen. Alle glauben die Heilsbringer zu sein. So wie es auch ihre Vorgänger glaubten und es ihre Nachfolger glauben werden.


Der Eifer und die Radikalität mit der die gesellschaftlich Veränderung erreicht werden soll, ist bei etwas distanzierter Betrachtung bisweilen befremdend.


Statuen werden abgerissen, die Sprache verändert, Geschichte umgeschrieben, Klassische Bücher verboten oder mit Warnhinweisen versehen, Filme werden aus dem Programm genommen, kritische Journalisten und Professoren werden gemobbt und verlieren ihre Stelle, der schwedische Humanökologe Andreas Malm fordert in einem vielfach übersetzen Buch sogar die Zerstörung von fremdem Eigentum für den Klimaschutz. Es scheint, dass alles was bisher war unglaublich schlecht, unvernünftig und dumm war und deshalb die Veränderung mit allen Mitteln erzwungen werden muss.


Durch neue Gesetze und die Abschaffung alter Gewohnheiten und Regeln soll Verbesserung erreicht werden. Wie bereits gesagt, ist dies auch ein Phänomen, dass man bei Politikerinnen und Führungskräften feststellen kann. Kaum eine Chefin oder ein Direktor ist bei der Übernahme einer neuen Funktion nicht von glühendem Reformdrang beseelt.


Viele Menschen, vor allem Junge, glauben wirklich daran Gutes zu tun. Sie beabsichtigen, die Welt zu einer besseren zu machen, ohne sich möglicher Konsequenzen ihres Handelns bewusst zu sein.


Der Glaube an ein bessere Zukunft durch eine radikale Abkehr vom gestrigen wird in einer Szene im Film „Cabarat“ aus dem Jahre 1972 hervorragend gezeigt. Es ist meiner Meinung nach der eindrücklichste Moment in dem mit acht Oscars ausgezeichneten Film.


Die Filmszene beginnt ganz unschuldig mit dem engelsgleichen Gesang eines hübschen Teenagers. Während er singt, gibt uns die Kamera einen Blick auf die Menschen im Biergarten, die aufmerksam zuhören. Dann schwenkt die Kamera nach unten und man erkennt die Hakenkreuz-Binde am linken Arm des singenden Burschen. Nun ist uns klar, dass der Junge ein Mitglied der Hitlerjugend ist.


Plötzlich wird der unheilvolle Schrecken der Situation nur allzu deutlich und das Lied wird zu einer beunruhigenden Erinnerung an düstere im Film noch zukünftige Ereignisse. Der Junge singt: „Wach auf! Wach auf! Der morgige Tag ist mein!“ Mehr und mehr Menschen erheben sich und stimmen ein. Zuerst die Jungen, dann auch die älteren Gäste. „Die Welt gehört uns! Die Nacht vergeht und der morgige Tag ist mein!“ tönt es nun inbrünstig aus den Kehlen.


Nur ein alter Mann bleibt sitzen, sein Gesicht verrät, dass er diesem Enthusiasmus nichts abgewinnen kann und als Zuschauer vermutet man, dass dieser Mann vorhersieht, dass ein solch unreflektierter enthusiastischer Glaube an Veränderung und eine bessere Zukunft schlussendlich zum Verlust der Unschuld führen und im Schrecken enden wird.

Das Lied ist übrigens kein Nazi-Lied. Es wurde von den zwei extrem erfolgreichen jüdischen schwulen Songwritern und Komponisten John Kander und Fred Ebb in den 60er Jahren geschrieben.


Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Aktivistinnen und Veränderer von heute ebenfalls im Glauben sind, dass die Welt nur ihnen gehört und wir bislang in der Dunkelheit gelebt haben. Die Zeit zum Überlegen und zum Diskutieren ist gemäss den Aktivistinnen längst abgelaufen. Nun gilt es mit aller Kraft die Veränderung zu erzwingen und das Übel der Vergangenheit zu bewältigen, den der morgige Tag ist mein.


Die warnenden Worte des irischen Staatsmannes, Schriftsteller und Philosophen Edmund Burke, der von 1729 – 1797 gelebt hat, kümmern dabei niemanden: „Wut und Raserei können in einer halben Stunde mehr zerstören, als Besonnenheit, Nachdenklichkeit und Voraussicht in hundert Jahren aufbauen können."


Das Problem ist, dass wir Menschen nicht selten davon ausgehen, dass wenn wir etwas nicht verstehen oder nachvollziehen können, dieses Etwas sinnlos ist und deshalb abgeschafft werden kann. Brauchtümer, Gesetze, Regeln oder Traditionen können auf den ersten Blick durchaus als sinnfremd erscheinen. Doch nur weil es uns nicht gelingt der Sache einen Sinn zuzuordnen, heisst dies noch lange nicht, dass es auch tatsächlich sinnlos ist.


Früheres Verhalten wird aus heutiger Sicht nicht selten dadurch erklärt, dass damals die Menschen einfach rassistisch, frauenfeindlich, unmoralisch und zu wenig gebildet waren. Eine solche simple Sicht der Vergangenheit entbehrt aber jeglicher Substanz. Es zeugt viel mehr von der Ignoranz und der mangelnden Fähigkeit Dinge aus einer anderen als der eigenen Perspektive zu betrachten.


Wenn mit viel Energie und Hass zum Beispiel Denkmäler zerstört werden, wird vergessen, dass es sich bei den Menschen auf den Denkmälern genauso um Kinder ihrer Zeit handelt, wie bei den Zerstörerinnen selber. Während man Vorurteile, Glaubenssätze und Lebensgewohnheiten der Vergangenheit verhöhnt und belächelt, vergisst man, dass wir genauso Opfer von zeitgemässem Vorurteilen, Lebensstilen und Glaubenssätzen sind.


Konservativismus wird heute vom Mainstream mit Abscheu betrachtet. Jede und jeder will sich den Touch von Progressivismus geben. Auf keinen Fall will man als altbacken oder bieder wahrgenommen werden. Wobei es zu betonen gilt, dass die Biedermeier ja eigentlich genau jene Menschen sind, die sich entsprechend der allgemein gültigen Moralvorstellung angepasst verhalten, also jene, die brav mit dem Mainstream schwimmen und sich bemühen politisch korrekt zu sei.


Es ist aber nicht so, dass Konservativismus mit Ablehnung von Veränderung und der Bewahrung des Status Quo gleichgestellt werden kann. Der wahre Konservative begrüsst Veränderung, aber nur, wenn dieser auf einem soliden Fundament aufbaut. Das wiederum setzt eine genaue Prüfung und Wertschätzung dessen voraus, was wir haben. Nur so können wir erkennen, welcher Teil des Bestehenden wertvoll ist und welcher nicht. Welcher Teil es zu bewahren, welchen es zu ersetzen gilt. Wenn wir etwas Altes durch etwas Neues ersetzen, müssen wir nicht nur die möglichen Konsequenzen, sondern auch die Konsequenzen der Konsequenzen prüfen.


Dieser Gedanke kommt am besten in der Geschichte von Chesterton's Zaun zum Ausdruck. G. K. Chesterton war ein englischer Schriftsteller und Journalist. Der Mann, der Teddy Roosevelt zum Verwechseln ähnlich sah, lebte von 1874 bis 1936.


Das Gleichnis, welches heute als „Chesterton‘s Zaun“ bekannt ist, erschien erstmals 1929 in seinem Buch „The Thing“.


"Wenn es darum geht, die Dinge zu reformieren und nicht zu deformieren, gibt es ein klares und einfaches Prinzip; ein Prinzip, das man wahrscheinlich als Paradoxon bezeichnen wird. In einem solchen Fall gibt es eine bestimmte Einrichtung oder ein Gesetz, sagen wir der Einfachheit halber einen Zaun, der über eine Strasse errichtet wurde. Der modernere Typus des Reformers geht fröhlich darauf zu und sagt: "Ich sehe keinen Nutzen darin; lasst uns den Zaun abreissen." Der intelligentere Reformer wird gut daran tun, darauf zu antworten: "Wenn Du keinen Nutzen darin siehst, werde ich es sicher nicht zulassen, dass Du den Zaun wegräumst. Gehe weg und denken zuerst nach. Wenn du dann zurückkommst und mir sagst, dass du einen Nutzen im Zaun siehst, erlaube ich dir vielleicht, ihn zu zerstören."


"Dieses Paradoxon beruht auf dem elementarsten gesunden Menschenverstand. Der Zaun ist nicht dort gewachsen. Er wurde nicht von Somnambulen errichtet, die es im Schlaf bauten. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass er von entflohenen Verrückten errichtet wurde, die sich aus irgendeinem Grund auf der Strasse herumtrieben. Irgendjemand hatte einen Grund, warum er dachte, dass es für irgendjemanden eine gute Sache wäre. Und solange wir nicht wissen, was der Grund war, können wir nicht beurteilen, ob der Grund vernünftig war. Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir einen ganzen Aspekt der Frage übersehen haben, wenn etwas, das von Menschen wie uns geschaffen wurde, völlig bedeutungslos und geheimnisvoll zu sein scheint. Es gibt Reformer, die diese Schwierigkeit überwinden, indem sie annehmen, dass alle ihre Väter Narren waren; aber wenn das so ist, können wir nur sagen, dass Torheit eine Erbkrankheit zu sein scheint. Die Wahrheit ist jedoch, dass es niemandem zusteht, eine soziale Einrichtung zu zerstören, bevor er sie nicht wirklich als historische Einrichtung gesehen hat. Wenn er weiss, wie sie entstanden ist und welchen Zwecken sie dienen sollte, kann er vielleicht wirklich sagen, dass es schlechte Zwecke waren, dass sie inzwischen schlechte Zwecke geworden sind oder dass es Zwecke sind, die nicht mehr erfüllt werden. Aber wenn er das Ding einfach als eine sinnlose Monstrosität ansieht, die ihm irgendwie in den Weg gekommen ist, dann ist er es und nicht der Traditionalist, der an einer Wahnvortellung leidet".


Ganz einfach gesagt: Zerstöre nicht, was du nicht verstehst.


Chesterton’s Parabel ist ein Aufruf zur Bescheidenheit und zur Zurückhaltung, wenn man Politik, Gesellschaft, Institutionen, Regeln, andere Zeiten, andere Menschen, Lebensstile oder andere Kulturen beurteilt.


Viele der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, entstehen, wenn wir in Systeme eingreifen, ohne uns der möglichen Folgen bewusst zu sein. Wenn es einen Zaun gibt, gibt es wahrscheinlich einen Grund dafür. Es mag ein unlogischer oder inkonsequenter Grund sein, aber es ist trotzdem ein Grund.


Chesterton spielt auch auf den allzu verbreiteten Glauben an, dass frühere Generationen stümperhafte Narren waren, die herumstolperten und Zäune errichteten, wo immer es ihnen gefiel.


Wenn wir das Urteilsvermögen unserer Vorfahren nicht respektieren und nicht versuchen, es zu verstehen, laufen wir Gefahr, selber, neue, unerwartete Probleme zu schaffen. Im Allgemeinen tun Menschen die Dinge nicht ohne Grund. Die meisten Menschen sind eher faul, wir verschwenden nicht gern Zeit und Ressourcen für nutzlose Zäune. Also noch einmal: Wenn wir also etwas nicht verstehen, heisst das nicht, dass es sinnlos sein muss.


Ich bin auch der Meinung, dass wir uns permanent verbessern sollten, sei es als Indviduum, als Organisation oder als Gesellschaft. Und ich teile die Ansicht, dass wenn wir die Dinge so tun, wie wir sie immer getan haben, wir das bekommen, was wir immer bekommen haben, gesetzt der Fall, die anderen entwickeln sich nicht weiter. Es hat sicherlich nichts Positives, sich gegen Veränderungen zu wehren. Dinge werden mit der Zeit veraltet und überflüssig. Es ist deshalb auch wichtig sich, aber auch sämtliche Bereiche der Gesellschaft immer wieder kritisch zu hinterfragen und wenn notwendig aufzurütteln und neue Wege auszuprobieren. Dennoch dürfen wir uns nicht zu sicher sein, dass Dinge, die wir für überflüssig halten, auch wirklich überflüssig sind oder, dass neue Ideen wirklich gut sind, auch wenn diese von Experten und Politikerinnen grossmundig gepriesen werden. Vergessen wir nicht, dass es auch in der Vergangenheit Expertinnen gab, welche die damaligen Entscheide gut geheissen haben.


Bleiben wir also kritisch und dennoch bescheiden. Nehmen wir uns nicht für zu wichtig, auch wenn wir die legitime Absicht haben, die Welt zu verbessern.


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