Den Fluch der Hedonistischen Tretmühle loswerden
Warum ist es so schwierig zufrieden zu sein? Warum klingt die Freude an neuerworbenen Dingen so rasch wieder ab? Es ist so, weil ein Fluch auf uns lastet. Sein Name: Die hedonistische Tretmühle. Wie wir diesen Fluch loswerden, zeigen uns der Philosoph Epikur und die Stoiker.
Können Sie sich an das letzte Mal erinnern, als Sie davon geträumt haben, ein neues Auto zu kaufen, eine Beförderung bei der Arbeit zu bekommen, in ein schöneres Haus zu ziehen oder einen Partner zu finden, mit dem Sie das Leben teilen können? Erinnern Sie sich daran, wie Sie sich vorgestellt haben, wie glücklich Sie wären, wenn Sie mit dem Cabriolet durch die Stadt fahren würden, wenn Sie den neuen Berufstitel auf der Visitenkarte lesen würden, wenn Sie am Sonntagmorgen im neuen Traumhaus ihren Cappuccino in der stylischen Küche vorbereiten würden oder wie glücklich sie wären, wenn Sie Hand in Hand mit ihrem Traumpartner über den Strand spazieren würden?
Als dann einer dieser Wünsche in Erfüllung ging, dann mussten Sie festgestellt, dass der "Glücksschub" nicht so lange anhielt oder nicht so intensiv war, wie Sie es sich vorgestellt hatten.
Die meisten von uns haben diesen Zyklus durchlaufen. Man erklärt dieses Phänomen mit dem Begriff der «hedonistischen Tretmühle» oder der «hedonistischen Anpassung».
Gemäss dieser Theorie kehren wir Menschen immer wieder zu unserem Grundniveau des Glücks zurück, unabhängig davon, was mit uns geschieht.
Die Menschen suchen nach dem Glück. Das war schon immer so. Praktisch jede Zeitperiode hat ihre eigenen Rezepturen für das Erreichen des ultimativen Glücks gehabt. Aus heutiger Sicht mögen uns einige dieser Ideen als geradezu bizarr erscheinen. Es reicht einen Blick auf all die verschiedenen Aphrodisiaka, die es seit der Antike bis in die heutige Gegenwart gegeben hat. Menschen glaubten seit jeher an die Zauberkraft, von irgendwelchen Kräutern, Blumen oder besonderen Speisen, die uns helfen sollen glücklicher zu werden.
Casanova schlürfte Austern, um seinen sexuellen Trieb zu stärken, im asiatischen Raum glaubt man an die Potenzsteigerung durch den Verzehr von Tiger-Penis oder durch die Einnahme von Pulver, welches aus dem Horn des Nashorns gemacht wird. Aber auch der Granatapfel, die Chilischote, Schokolade, die Tomate oder sogar die grünen M&M’s sollen den Sexualtrieb steigern.
Jennifer Michael Hecht beschreibt in ihrem Buch «The Happiness Myth» (2007) eine besonders erwähnenswerte Technik zum Steigern des Wohlbefindens und der Zufriedenheit. Das sogenannte "Fletcherizing", welches sich im ausgehenden 19. Jahrhundert grosser Beliebtheit erfreute.
Inspiriert durch den englischen Premierminister Gladstone, verbreitete der Amerikaner Horace Fletcher die Theorie, wonach wir jedes Stück Nahrung mindestens 32 Mal kauen sollten. Das Essen sollte durch das Kauen im Mund pulverisiert werden. Fletcher vertrat die Meinung, dass durch diese Technik die Menschen gesünder, glücklicher und entspannter würden.
Der kräftige, grossgewachsene und stets gut aufgestellte Fletcher gewann zahlreiche Anhänger. Zu den «Kauern» gehörten auch prominente Zeitgenossen wie der Upton Sinclair, Arthur Conan Doyle, Franz Kafka, oder John D. Rockefeller[1].
Der Glaube, dass wir unser Essen oftmals kauen sollten, hält sich auch heute noch in der Gesellschaft. Die Forschung legt zwar nahe, dass wir durch langsameres Essen unseren Appetit und somit auch die Gewichtszunahme besser kontrollieren können. Die Anzahl der Kaubewegungen hat aber keinen direkten Einfluss auf unsere Gesundheit oder unserer Zufriedenheit[2].
Einige der heutigen Glücksmoden könnten den Menschen in hundert Jahren ebenso seltsam vorkommen, wie uns das «Fletcherizing» heute. Wie werden zukünftige Generationen wohl über jene Menschen denken, die gegenwärtig Tausende von Franken für Aromatherapien, Feng Shui (die chinesische Praxis der Anordnung von Gegenständen in unseren Räumen, um Zufriedenheit zu erreichen), oder stimmungsbeeinflussende Kristalle ausgeben?
Eines haben all diese Modererscheinungen gemeinsam. Sie spiegeln einen Glaubenssatz, der in der Populärpsychologie fest verankert ist. Nämlich, dass unser Glück hauptsächlich durch externe Umstände beeinflusst wird. Um Glück zu erlangen, so die weitverbreitete Meinung, müssen wir einfach die richtige "Formel" finden. Diese Formel existiert, so der Glaube, hauptsächlich ausserhalb von uns. Meistens besteht diese Formel aus viel Geld, einem prächtigen Haus, einem tollen Jobtitel und vielen angenehmen Ereignissen in unserem Leben.
Doch stimmt diese Annahme auch tatsächlich? Ist unsere Zufriedenheit vor allem abhängig von äusseren Einflüssen oder könnte es sein, dass Martha Washington, die Frau des ersten amerikanischen Präsidenten, etwa recht hatte, als sie vor über 200 Jahren sagte: «Der grösste Teil unseres Glücks oder Unglücks hängt von unseren Veranlagungen ab, nicht von den Umständen»?
Tatsächlich haben Psychologen in den letzten Jahrzehnten begonnen die "Binsenweisheit", dass unser Glück hauptsächlich eine Folge dessen ist, was uns widerfährt, zu hinterfragen. Der im Jahr 2007 verstorbene berühmte Psychologe Albert Ellis kam zum Schluss, dass eine der am weitesten verbreiteten - und verhängnisvollsten - irrationalen Ideen die Vorstellung ist, dass unser Glücklich- und Unglücklichsein hauptsächlich von unseren äusseren Lebensbedingungen abhängt und nicht von unseren Interpretationen dieser Umstände. Ellis zitierte diesbezüglich gerne Shakespeares Hamlet, der sagte: "Es gibt nichts, was gut oder schlecht ist, nur das Denken macht es so."
Bis heute gibt es zahlreiche Studien, die wenig Zweifel offenlassen, dass äussere Umstände nur wenig Einfluss auf unser Wohlbefinden haben.[3] Dies gilt auch dann, wenn es sich um extreme Ereignisse handelt, die uns widerfahren. Eine der wichtigsten Untersuchungen diesbezüglich ist die Studie von Brickman, Coates & Janoff-Bulman aus dem Jahre 1978.
In einer Studie verglichen die drei Psychologen die Zufriedenheit von drei Gruppen: eine Gruppe von Lotteriegewinner, eine Gruppe von Menschen, die durch einen Unfall gelähmt wurden und einer Kontrollgruppe.
Mit den 22 Lotteriegewinnern, den 18 gelähmte Menschen und den 22 Personen aus der Kontrollgruppe führten die Forscher Interviews durch. Das Ziel war, das jetzige, das vergangene und das erwartete Glück, sowie die empfundene Freude bei alltäglichen Aktivitäten zu erheben. Dafür wurde einer 5-Punkte-Skala benützt, wobei 0 der niedrigste und 5 der höchste Wert war. Die Zeit zwischen dem Interview und dem kritischen Ereignis (Lotteriegewinn oder Unfall) betrug zwischen einem Monat und einem Jahr.
Die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie waren:
Lotteriegewinner bewerten das Vergnügen, dass durch alltägliche Ereignisse entsteht, deutlich niedriger als die Kontrollgruppe. Das heisst, der Lotteriegewinn hat zu einer Abstumpfung geführt. Das bedeutet, dass je mehr finanzielle Mittel man zur Verfügung hat, desto weniger schätzt man die kleinen Dinge im Leben.
Unfallopfer berichteten von einer glücklicheren Vergangenheit als die Kontrollgruppe. Dies kann als eine Art “Nostalgie-Effekt” gesehen werden. Das bedeutet, dass man Dinge aus der Vergangenheit retrospektiv positiver einschätzt, wenn man diese verloren hat.
Unfallopfer bewerteten ihr wahrgenommenes Glücksgefühl zwar tiefer als die Lottomillionäre, aber mit 2.96 immer noch oberhalb der Mitte, sprich im positiven Bereich. Das bedeutet, dass ein solch tragisches Ereignis unser Wohlbefinden zwar negativ beeinflusst, wir Menschen aber in der Lage sind im Laufe der Zeit unser Wohlbefinden wieder nach oben zu korrigieren.
Eine Studie von Wortman und Silver aus dem Jahr 1987 fand heraus, dass Tetraplegiker ihr Wohlbefinden nicht negativer einschätzen als Kontrollpersonen. In einer Metastudie aus dem Jahre 1992 fand Ty ebenfalls keinen Unterschied in der wahrgenommenen Lebensqualität oder der psychiatrischen Symptomatik bei jungen Patienten, die Gliedmassen durch Krebs verloren hatten, im Vergleich zu denen, die sie nicht verloren hatten. Zu einem gleichen Resultat kamen Patterson und seine Kollegen. Sie untersuchten 1993 die psychische Anpassungsfähigkeit von Verbrennungsopfern ein Jahr nach dem Unfall.
Auch andere Schicksalsschläge können wir Menschen überraschend gut verarbeiten. Der berühmte Psychologieprofessor Daniel Gilbert – Autor des Bestsellers «Stumbling on Happiness» - untersuchte den Effekt des Jobverlusts auf das Wohlempfinden. Dabei verglich er junge Professoren, denen eine Festanstellung verweigert wurde und somit ihre Stelle verloren haben, mit Professoren, die eine Festanstellung erhalten hatten. Natürlich waren diese gefeuerten Menschen anfänglich niedergeschlagen, innerhalb von rund einem Jahr waren diese sie aber genauso glücklich wie jene Professoren, die eine Festanstellung erhalten haben.[4]
Es ist so, dass bestimmte Ereignisse wie Behinderung durch einen Unfall, Scheidung, oder Arbeitslosigkeit zwar einen nachhaltigen Effekt auf unser Wohlempfinden haben können, dieser Effekt aber weit geringer ist, als man dies annehmen würde. Wir Menschen sind so programmiert, dass wir uns recht gut an sich ändernde Lebensumstände anpassen können.
Interessant ist nun, dass dieser Adaptionsprozess nicht nur bei negativen Erlebnissen eintritt, sondern auch bei positiven. Die empfundene Zufriedenheit bei Lotteriegewinnern unterscheidet sich nach wenigen Monaten nicht von jenen, anderer Menschen.
Die Forschung stellt somit auch den weit verbreiteten Glauben in Frage, dass man mit Geld Glück kaufen kann. Auch dazu gibt es etliche Studien, unter anderem auch eine viel zitierte von Nobelpreis-Gewinner Daniel Kahnemann aus dem Jahr 2010[5]. Kahnemann kommt zum Schluss, dass das Einkommen bis zu einer gewissen Höhe eine wichtige Rolle für die Zufriedenheit spielt, nach Überschreiten dieser kritischen Höhe aber keinen entscheidenden Einfluss mehr auf unser Well-Being hat. Gemäss Kahnemann lag diese kritische Höhe in den USA im Jahre 2010 bei einem Einkommen von 75'000 Dollar.
In einer Untersuchung aus dem Jahre 2021 relativiert Matthew Killingsworth die Resultate von Kahnemann zwar. Killingsworth konnte nachweisen, dass Menschen mit mehr Geld tendenziell ihre Lebenszufriedenheit höher einschätzten. Der Wharton Psychologe sagt, dass gerade während der Pandemie, der finanzielle Wohlstand eine Rolle spielt. So leiden Leute mit mehr Geld bedeutend weniger unter den staatlichen Einschränkungen, als dies ärmere Menschen tun. Gleichzeitig betont Killingsworth, dass Geld nur einer von vielen Einflussfaktoren auf das persönliche Wohlbefinden sei und bei weitem nicht der Wichtigste.
Einen wichtigen Einfluss auf unser Wohlbefinden hat die Art und Weise, wie wir das zur Verfügung stehende Geld nutzen. Untersuchungen haben gezeigt, dass jene Menschen, die ihr Geld freiwillig – also nicht mittels steuerlicher Zwangsabgabe - prosozial ausgeben, d.h. anderen Menschen Geschenke machen, andere Menschen einladen, eine Sache, zB einen Sportverein, Kultur oder eine karitative Organisation unterstützen, glücklicher sind, als jene die ihr Geld horten oder für sich selber ausgeben. Auch ist es für unser Wohlempfinden sinnvoller, wenn wir Geld für Erfahrungen, zB Reisen, Besuche von Konzerten, Sportevents, etc. oder das Erlernen von neuen Fähigkeiten ausgeben, als z.B. für ein grösseres Haus oder teurere Sneakers.
Zur Veranschaulichung der auffälligen Diskrepanz zwischen Geld und Glück hier das Resultat einer Studie aus dem Jahre 1985 von Diener, Horowitz und Emmons[6]. Die drei Psychologen verglichen die Lebenszufriedenheit der 400 reichsten Amerikaner, wie jener der Amish Bevölkerung aus Pennsylvania. Obwohl das Jahresgehalt der Amish mehrere Milliarden Dollar geringer war als jenes der Vergleichsgruppe, lag die durchschnittliche Lebenszufriedenheit auf einer 7-Punkte-Skala bei beiden Gruppen bei recht hohen 5.8.
Man kann also sagen, dass es für das Wohlbefinden unerlässlich ist, genug Geld zu haben, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen und ein Sicherheitsnetz aufzubauen. Wenn wir mehr Geld zur Verfügung haben, als zur Befriedigung der Grundbedürfnisse nötig ist, dann kann dies durchaus unsere Zufriedenheit steigern. Es ist aber nicht das Geld, dass uns glücklich macht, sondern viel mehr, die Art und Weise wir dieses Geld nutzen.
Der Effekt, dass unser Glücksempfinden, unsere Zufriedenheit oder unser Wohlbefinden durch negative und positive externe Faktoren nur relativ kurzfristig beeinflusst wird, nennt man wie bereits erwähnt «hedonistische Adaption» oder «hedonistische Tretmühle».
Das Problem mit dieser «hedonistischen Tretmühle» ist es, dass sie uns dazu veranlasst, nach Abklingen des kurzfristigen Glücksgefühls, nach dem nächsten Glücksgefühl zu suchen.
Wir streben nach dem Erwerb von schönen und angenehmen Dingen, weil wir glauben, dass sie uns glücklich machen.
Wenn wir uns unseren Traum dann erfüllt haben, gewöhnen wir uns in kürzester Zeit daran, und dieser bereitet uns keine Freude mehr. Infolgedessen beginnen wir, etwas Neues zu suchen, und der Kreislauf wiederholt sich.
Plötzlich ist nicht mehr der kürzlich erworbene BMW unser Traumwagen, sondern der Porsche. Plötzlich ist nicht mehr der Job des Abteilungsleiters, für den wir so hart gearbeitet haben, unser Traumjob, sondern jener des Bereichsleiters. Plötzlich ist die gekaufte Louis-Vuitton-Handtasche nicht mehr unsere Traumtasche, sondern jene von Lana Marks oder Hermes.
Hedonistische Anpassung erleben wir auch in unseren Beziehungen. Wir lernen den Mann oder die Frau unserer Träume kennen, und nach einem aufreibenden Werben gelingt es uns, diese Person zu heiraten. Wir beginnen in einem Zustand des Eheglücks, aber schon bald ertappen wir uns dabei, wie wir über die Schwächen unseres Ehepartners anfangen nachzudenken und nicht lange danach, wie wir darüber fantasieren, eine Beziehung mit jemand Neuem zu beginnen.
Diese hedonistische Tretmühle führt schlussendlich dazu, dass wir nie zufrieden sind. Dabei leben die meisten von uns eigentlich ihren Traum. Denn all das was wir heute besitzen, haben wir uns einst erwünscht.
Wenn wir nicht arbeitslos sind, dann üben wir einen Beruf aus, für den wir uns einst beworben haben, für den wir einst eine Ausbildung gemacht haben. Also den Job, den wir einst haben wollten. Wenn Sie jemand bei der Bewerbung auf Ihren heutigen Job gefragt hätte: «Wünschst Du Dir diesen Job zu erhalten», hätte Sie damals wohl kaum «Nein» gesagt!
Wenn Sie mit einem Partner verheiratet sind, dann sind Sie mit der Person zusammen, von der Sie einst geträumt haben, dass diese Sie heiraten würde.
Wenn Sie ein Auto haben, dann haben Sie sich genau dieses Auto vor dem Erwerb gewünscht, ansonsten hätten Sie ein anderes gekauft.
Die Hedonistische Anpassung lässt uns vergessen, dass wir eigentlich unseren Traum leben, weil sobald wir das Leben unserer Träume leben, wir dieses Leben als selbstverständlich betrachten.
Anstatt unsere Tage damit zu verbringen, unser Glück zu geniessen und zu schätzen was wir besitzen und erreicht haben, verbringen wir diese damit, neue, grössere Träume für uns zu entwickeln und zu verfolgen, dies mit dem Ergebnis, dass wir nie mit unserem Leben zufrieden sind.
Der griechische Philosoph Epikur drückte es wie folgt aus: "Verderbe nicht, was du hast, indem du begehrst, was du nicht hast; sondern denke daran, dass das, was du jetzt hast, einst zu den Dingen gehörte, auf die du nur gehofft hast."
Wie können wir nun aus dieser hedonistischen Tretmühle herauskommen? Wir könnten es Diogenes und den anderen Kynikern gleichtun, die gemäss dem Grundsatz: «Ich besitze nicht, damit ich nicht besessen werde» den persönlichen Besitz auf das Notwendigste reduzierten, um Glückseligkeit und grösstmögliche Unabhängigkeit zu erreichen. Wer jetzt aber nicht freiwillig auf sämtliche Besitztümer verzichten, in einem alten Fass, auf der Strasse oder unter einer Brücke leben will, der hat auch eine andere Möglichkeit, der hedonistischen Tretmühle zu entkommen.
Wir können nämlich lernen unsere Wünsche zu kontrollieren, indem wir anfangen zu schätzen, was wir bereits haben. Dies ist ein Akt, der bewusst vollzogen werden muss. Es geht also nicht darum, keine Träume mehr zu haben und uns dem Vergnügen komplett zu entsagen, sondern die Dankbarkeit für das bereits Erreichte zu schärfen.
Obwohl Epikur die Menschen dazu aufrief, ihre Wünsche zu kontrollieren, war er ein Verfechter des Vergnügens. Damit man das Vergnügen aber in vollen Zügen geniessen kann, darf man dem Vergnügen nicht übermässig frönen, so die Logik des Philosophen.
Wer jeden Tag seine Lieblingsspeise isst, der gewöhnt sich daran und weiss es nicht mehr zu schätzen und somit ist es kein Vergnügen mehr. Epikur erkannte die Gefahr der hedonistischen Tretmühle und riet, dass man sich davor hüten solle, den Vergnügungen so sehr zu frönen, dass man ein Sklave von diesen werde. Die besten Beispiele dafür sind der übermässige Alkohol und Drogenkonsum.
Die Stoiker waren ebenfalls der Ansicht, dass wir uns erlauben sollten, Annehmlichkeiten, Luxus, Reichtum und die feineren Dinge des Lebens zu geniessen und zu schätzen. Gleichzeitig warnten sie aber davor, dass wir diese Dinge nicht mit dem Erreichen von Glück und Zufriedenheit verwechseln oder verbinden sollten.
Die diesbezügliche Grundannahme der stoischen Philosophen lag darin, dass diese Dinge nur dann nachhaltige Freude bringen, wenn wir in der Lage sind, sowohl das zu schätzen, was wir haben, als auch ebenso glücklich zu sein, wenn uns diese Dinge abhandenkommen.
Damit die Stoiker dies tun konnten, übten sie sich darin, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn uns Dinge abhandenkommen würden. Sie meditierten darüber, wie es wäre, wenn sie das Haus verlieren würden, wenn ihnen Besitztum gestohlen, oder sie verbannt würden, wie es wäre, wenn sie ihren Titel oder ihren Rang abgeben müssten. Sie stellten sich vor, wie es wäre, wenn sie die Dinge, die in ihrem Leben selbstverständlich geworden sind, wieder verlieren würden. Diese Technik wird auch negative Visualisierung genannt.
Auch wir können uns in «negativer Visualisierung» üben und dadurch zufriedener und optimistischer werden.
Stellen Sie sich mal vor, wie es wäre, wenn Sie ihren Job, Ihren sozialen Status, Ihren Partner, Ihr Haus, Ihr Auto, Ihren Hund oder Ihr Kind verlieren würden. Wie es wäre, wenn wir im Krieg leben würden, wie es wäre, wenn wir keinen Strom, kein warmes Wasser, kein Essen u.s.w. hätten.
Obwohl diese Übung auf den ersten Blick düster und morbide erscheint, ist sie es nicht. Diese Übung hilft Ihnen dabei, die Dinge in ihrem Leben in die richtige Perspektive zu rücken. Sie erlaubt es Ihnen zu sehen, wie viel Glück Sie wirklich haben. Die negative Visualisierung ist ein ganz einfacher Weg, um Dankbarkeit zu üben.
Ein Schritt weiter geht eine weitere stoische Übung. Diejenige der «freiwilligen Unannehmlichkeit». Bei dieser Übung stellt man sich nicht nur vor, dass man etwas verloren hat, sondern man verzichtet bewusst temporär auf eine, als selbstverständlich empfundene Annehmlichkeit unseres Lebens. Wie zum Beispiel warmes Wasser, das Auto oder das Fahrrad, das Essen, das Bett oder die warme Jacke.
Duschen Sie einmal mit kaltem Wasser, und Sie lernen das warme Wasser zu schätzen, gehen Sie einmal bei Regen zu Fuss zur Arbeit, und Sie lernen Ihr Auto zu schätzen, fasten Sie einmal pro Monat und Sie werden sehen, dass Ihnen das Essen am kommenden Tag viel besser schmeckt, gehen Sie bei kaltem Wetter mal ohne Jacke nach draussen, und es wird Ihnen bewusst, wie gut Sie es haben, dass Sie zu Hause noch eine Winterjacke haben.
Die letzte Übung führt nicht nur zu mehr Dankbarkeit, sie macht uns auch resilienter gegenüber unvorhergesehenen unbequemen Ereignissen.
Der Effekt der gesteigerten Dankbarkeit und des verstärkten Bewusstsein gegenüber den Dingen, die wir als selbstverständlich betrachten, konnten mir meine Offiziersaspiranten vor allem nach der Durchhalteübung bestätigen, nachdem sie während zehn Tagen auf fast alle Annehmlichkeiten des Alltages verzichten mussten.
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Sie können mir auch ein oder mehrere Kaffees auf folgender Webseite spendieren:
Herzlichen Dank an all jene, die mir schon Kaffees spendiert haben!
Quellen: [1] https://www.myrecipes.com/extracrispy/fletcherizing-was-the-juicing-of-the-1890s [2] https://time.com/collection/guide-to-weight-loss/4736062/slow-eater-chew-your-food/ [3] Kahnemann, Diener, Schwarz: «Well-Beining: The foundations of Hedonic Psychology” (1999), “Russel Sage Fondation, Seite 312 [4] Gilbert, Pinel, Wilson, Blumberg, & Wheatley, 1998 [5] Kahneman D, Deaton A. «High income improves evaluation of life but not emotional well-being [6] Diener, E., Horwitz, J. & Emmons, R.A. Happiness of the very wealthy. Social Indicators Research 16, 263–274 (1985). https://doi.org/10.1007/BF00415126
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