Der dümmste Satz bei einem Bewerbungsgespräch
Es hat mich immer irritiert, ja sogar verärgert, wenn im Kontext von Bewerbungsgesprächen die vermeintlich selbstkritische Äusserung fällt: "Meine grösste Schwäche ist, dass ich ein Perfektionist bin." Auf den ersten Blick klingt es fast wie ein Kompliment an sich selbst – ein geschickter Schachzug, der Demut und selbstreflektierte Tugend vortäuscht. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Bewerberinnen und Bewerber gerne Schwächen in Stärken verkleiden, doch die Behauptung, dass die es eine persönliche Schwäche das Streben nach Perfektion sei, ist der unangefochtene Klassiker unter diesen Taktiken. Der Clou dabei? Diese selbstgefällige Behauptung, ein Perfektionist zu sein, trägt eine Ironie in sich, die oft unerkannt bleibt: Kratzt man nämlich ein wenig an der Oberfläche, offenbart sich die wahre Natur dieser Aussage: eine weit verbreitete und gründlich missverstandene Auffassung von Perfektionismus, die ihn als versteckte Stärke darstellt. Ja, Perfektionismus ist in Wahrheit eine echte Schwäche.
Der Satz "Ich bin ein Perfektionist" klingt zwar nach Stolz und Qualitätsbewusstsein, doch tatsächlich deutet er auf eine Vielzahl psychologischer und alltäglicher Schwierigkeiten hin, die einer näheren Betrachtung bedürfen.
In der Welt der Psychologie gilt Perfektionismus als das verzweifelte Jagdfieber nach einem fehlerfreien Dasein, gepaart mit dem Hang, sich selbst ständig zu kritisieren und vor den Urteilen anderer zu zittern. Zu behaupten, man sei ein «Perfektionist» ist nichts anderes als die eigene Mutlosigkeit und die Angst vor Fehlern zuzugeben. Dr. Brené Brown, die sich tief mit Themen wie Verletzlichkeit und Scham beschäftigt, bringt es auf den Punkt: Perfektionismus ist nicht das noble Streben nach Exzellenz, sondern eher ein Schutzschild gegen Kritik – ein Trick, um jedes mögliche Urteil elegant zu umschiffen.
Perfektionismus ist somit vielmehr ein Defensivmechanismus, ein Versuch, Urteil und Kritik zu vermeiden.
Die Problematik des Perfektionismus liegt in mehreren Aspekten:
1. Unrealistische Standards: Nehmen wir als Beispiel das tägliche Arbeitsleben. Ein Perfektionist mag versuchen, jede E-Mail ohne den geringsten Tippfehler zu senden oder jedes Projekt über die höchsten erdenklichen Standards hinaus zu perfektionieren. Diese Neigung, das Unmögliche zu erreichen, führt oft zu Überarbeitung und Enttäuschung, da selbst kleinste Fehler als persönliches Scheitern wahrgenommen werden. Die Psychologin Elizabeth Lombardo, in ihrem Buch "Better Than Perfect", argumentiert, dass solche unrealistischen Standards nicht nur die Produktivität hemmen, sondern auch zu einem ständigen Gefühl der Unzufriedenheit führen.
2. Angst vor Fehlern: Diese Angst manifestiert sich häufig in Situationen, in denen etwas auf dem Spiel steht. Beispielsweise könnte ein junger Sportler vor einem wichtigen Wettkampf so sehr vor dem Versagen zurückschrecken, dass er sich in seiner Leistung blockiert fühlt. Diese Angst vor Fehlern kann so lähmend sein, dass sie ihn daran hindert, sein volles Potenzial zu entfalten. In "The Gifts of Imperfection" betont Dr. Brené Brown, dass das Zulassen von Fehlern essentiell für Wachstum und Lernen ist – eine Lehre, die Perfektionisten oft schwerfällt zu akzeptieren.
3. Auswirkungen auf das Wohlbefinden: Die Studie von Curran und Hill (2019), veröffentlicht im "Psychological Bulletin", legt dar, dass der Druck, perfekt zu sein, in Verbindung mit sozialen Medien und der ständigen Vergleichskultur zu erhöhten Raten von psychischen Erkrankungen unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen führt. Diese Forschung verdeutlicht, wie der kulturelle Wandel hin zu einer "Perfektionsgesellschaft" das Wohlbefinden beeinträchtigt, indem er unerreichbare Ideale fördert.
4. Zwischenmenschliche Beziehungen: Der Druck, perfekt zu sein, den Eltern manchmal auf ihre Kinder ausüben, kann gravierende psychische Folgen haben, einschliesslich Essstörungen und selbstverletzendem Verhalten. Kinder, die unter diesem Perfektionismus leiden, suchen oft nach Wegen, um mit der Last der Erwartungen umzugehen, was zu ernsthaften gesundheitlichen und emotionalen Problemen führen kann. Anorexie und Selbstverletzung können extreme Versuche sein, Kontrolle über einen Aspekt ihres Lebens zu gewinnen oder dem Druck zu entfliehen.
Auch in Beziehungen kann Perfektionismus schädlich sein. Unrealistische Erwartungen an Partner und Freunde können zu Konflikten und Entfremdung führen. Perfektionisten neigen dazu, ihre eigenen Fehler zu stark zu bewerten und können Schwierigkeiten haben, emotionale Nähe zuzulassen, aus Angst, ihre Unvollkommenheiten zu offenbaren. Dies schafft eine Barriere für echte Verbindungen und tiefes Verständnis in Beziehungen.
5. Hemmung der persönlichen und beruflichen Entwicklung: Betrachten wir die Karriereentwicklung. Ein Mitarbeiter, der aus Angst vor Fehlern keine neuen Aufgaben übernimmt oder keine innovativen Ideen einbringt, kann wichtige Gelegenheiten zur persönlichen und beruflichen Weiterentwicklung verpassen. Wie Carol Dweck in ihrer Forschung zum "Growth Mindset" hervorhebt, ist die Bereitschaft, Herausforderungen anzunehmen und aus Fehlern zu lernen, entscheidend für Erfolg und Zufriedenheit im Berufsleben.
Diese tiefgreifende Auseinandersetzung mit den Schattenseiten des Perfektionismus führt uns zu einem unvermeidlichen Schlusspunkt: der Notwendigkeit, uns von diesen Fesseln zu befreien und ein ausgeglicheneres, erfüllteres Leben zu führen. Der Schlüssel dazu liegt nicht in der Verleugnung unserer Natur oder dem Ignorieren unserer Ambitionen, sondern in der bewussten Umgestaltung unserer Perspektiven und Verhaltensweisen. Hier sind fünf Ratschläge, inspiriert von den Lehren des Stoizismus und anderen philosophischen Strömungen, die uns dabei helfen können, den Perfektionismus hinter uns zu lassen:
1. Erkenne, was in deiner Kontrolle liegt (Dichotomie der Kontrolle): Der Stoizismus lehrt uns, zwischen Dingen zu unterscheiden, die wir kontrollieren können – unsere Einstellungen, Überzeugungen und Handlungen – und jenen, die ausserhalb unserer Kontrolle liegen. Konzentriere dich auf deine Anstrengungen, nicht auf das Ergebnis. Wenn du akzeptierst, dass nicht alles nach Plan laufen wird, reduzierst du die Angst vor Fehlern und befreist dich von dem Druck, unerreichbare Standards zu erfüllen.
2. Umarme die Unvollkommenheit (Amor Fati): Liebe dein Schicksal, wie es kommt, einschliesslich aller Unvollkommenheiten. Dies bedeutet, die Realität zu akzeptieren und zu schätzen, anstatt gegen sie anzukämpfen. Jeder Fehler, jede Abweichung vom Ideal ist eine Gelegenheit zum Lernen und Wachsen. Diese Haltung hilft, die ständige Selbstkritik zu mildern und ein positiveres Selbstbild zu fördern. Indem wir Nietzsches Konzept des "Amor Fati" – die Liebe zu unserem Schicksal – annehmen, finden wir einen kraftvollen Weg, den Perfektionismus zu überwinden. Diese Philosophie lehrt uns, jede Situation, jede Unvollkommenheit als einen integralen Bestandteil unseres Lebens zu schätzen und davon zu lernen, statt sie zu bekämpfen. Indem wir lernen, das Leben mit all seinen Unwägbarkeiten zu lieben, mildern wir die harte Selbstkritik, die der Perfektionismus mit sich bringt.
Die Akzeptanz, dass nicht alles perfekt sein muss, ist entscheidend, um uns von den Fesseln des Perfektionismus zu befreien. "Amor Fati" hilft uns, zu erkennen, dass in der Unvollkommenheit eine Schönheit und ein Potenzial zur Entwicklung liegen. Dieser Ansatz ermutigt uns, Fehler nicht als Misserfolge, sondern als wertvolle Schritte auf unserem Weg zu sehen. So wird die Liebe zu unserem Schicksal, einschliesslich aller seiner Unvollkommenheiten, zu einem Schlüssel für ein authentischeres und zufriedeneres Leben – frei von dem Druck, perfekt sein zu müssen.
3. Setze realistische Ziele: Anstatt dich auf das perfekte Endergebnis zu konzentrieren, setze dir erreichbare, messbare Ziele. Dies hilft, die überwältigende Last unrealistischer Erwartungen zu vermeiden und fördert ein Gefühl der Zufriedenheit und des Fortschritts. Erinnere dich daran, dass Fortschritt, nicht Perfektion, das Ziel ist. Jeden Tag etwas besser zu werden, statt Perfektion zu erreichen, sollte unser Streben sein.
4. Praktiziere Selbstmitgefühl: Der Rat, Selbstmitgefühl zu praktizieren, indem man sich selbst so behandelt, wie man einen guten Freund behandeln würde, greift eine tiefgreifende, aber oft übersehene Wahrheit auf: Wir sind gegenüber anderen oft viel verständnisvoller und verzeihender als gegenüber uns selbst. Dieses Prinzip auf das eigene Leben anzuwenden, kann eine radikale Veränderung im Umgang mit Perfektionismus und Selbstkritik bewirken.
Stellen Sie sich vor, ein guter Freund kommt zu Ihnen, enttäuscht von einem Fehler oder einem nicht erreichten Ziel. Würden Sie ihn mit harter Kritik überhäufen? Wahrscheinlich nicht. Vielmehr würden Sie ihm Trost spenden, auf seine Stärken hinweisen und ihn daran erinnern, dass Fehler menschlich sind und Lernmöglichkeiten bieten. Genau diese Haltung des Verständnisses und der Akzeptanz sollten wir uns selbst gegenüber einnehmen.
Selbstmitgefühl bedeutet, sich selbst Liebe und Verständnis zu schenken, insbesondere in Momenten des Scheiterns oder der Unzulänglichkeit. Es bedeutet anzuerkennen, dass Schwächen und Fehler universelle Aspekte der menschlichen Erfahrung sind, die uns nicht minderwertig oder unzulänglich machen. Durch Selbstmitgefühl können wir eine innere Haltung entwickeln, die uns erlaubt, aus Misserfolgen zu lernen, ohne in Selbstkritik und Selbstverurteilung zu verfallen.
5. Selbstreflexion: Nimm dir regelmässig Zeit, um über deine Ziele, Motivationen und das, was dir wirklich wichtig ist, nachzudenken. Indem wir uns Zeit nehmen, um über unsere wahren Ziele und das, was uns im Leben wichtig ist, nachzudenken, entwickeln wir nicht nur einen klaren Wertekompass, sondern finden auch einen wirksamen Weg, uns vom Perfektionismus zu lösen. Diese Selbstreflexion ermöglicht es uns, Prioritäten zu erkennen, die wirklich zählen, und zu verstehen, dass das Streben nach Perfektion oft nicht mit unseren tiefsten Werten übereinstimmt. Die stoische Weisheit, uns auf das zu konzentrieren, was in unserer Macht steht – unsere Einstellungen und Handlungen – hilft uns, die unnötige Last des Perfektionismus abzuwerfen.
Durch die Praxis der Selbstreflexion und das Setzen von Grenzen erkennen wir, dass nicht das fehlerfreie Ergebnis, sondern der Prozess und unser Einsatz zählen. Epiktets Worte: "Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Urteile über die Dinge," erinnern uns daran, dass unsere Bewertung einer Situation und nicht die Situation selbst oft die Quelle unserer Unzufriedenheit ist. Indem wir unsere Einstellung zum Streben nach Perfektion ändern und lernen, Fehler als Teil des menschlichen Daseins zu akzeptieren, befreien wir uns von dem Druck, der uns zurückhält.
Diese bewusste Lebensführung, geleitet von unseren Werten und der Akzeptanz der Unvollkommenheit, ermöglicht es uns, den Perfektionismus hinter uns zu lassen und ein zufriedeneres, erfülltes Leben zu führen.
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Von der Falle "Ich bin ein Perfektionist" zu einer befreiten Sicht auf das Leben – das ist eine Reise, die Mut erfordert, aber vor allem die Bereitschaft, tief verwurzelte Überzeugungen zu hinterfragen. Die Anerkennung, dass Perfektionismus nicht die Tugend ist, für die viele sie halten, sondern eine Barriere, die uns von echtem Wachstum und Zufriedenheit trennt, ist der erste Schritt auf diesem Weg.
Wir haben gesehen, dass Perfektionismus mehr als nur ein hinderlicher Charakterzug ist – er ist eine Haltung, die uns in Angst vor Fehlern leben lässt, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen belastet und unsere Entwicklung hemmt. Doch die gute Nachricht ist, dass wir nicht in diesen Mustern gefangen bleiben müssen.
Lasst uns also den Mut finden, unsere selbst auferlegten Fesseln zu lösen. Erkennt die Kontrolle, die ihr habt – über eure Einstellungen, Überzeugungen und Handlungen. Lernt, die Unvollkommenheit mit dem Herzen eines Stoikers zu umarmen und seht in jedem Fehler eine Chance zum Wachstum. Setzt euch realistische Ziele und seid euch selbst gegenüber so mitfühlend, wie ihr es bei einem Freund wäret. Und vielleicht am wichtigsten: Nehmt euch regelmässig Zeit zur Reflexion, um eure wahren Werte zu erkennen und danach zu leben.
"Meine grösste Schwäche ist, ich bin ein Perfektionist" – lasst uns diesen Satz nicht als Auszeichnung, sondern als Signal sehen, genauer hinzuschauen und zu hinterfragen. Es ist Zeit, einen neuen Weg einzuschlagen – einen Weg, der uns nicht nur von der Last des Perfektionismus befreit, sondern uns auch zu authentischeren, zufriedeneren und resilienteren Menschen macht.
Beginnt heute mit dieser Veränderung. Ermutigt euch selbst und andere, Perfektionismus hinter sich zu lassen und das Leben in all seinen facettenreichen, unvollkommenen und wunderschönen Momenten zu umarmen. Denn in der Akzeptanz und Liebe zu unserem Schicksal – "Amor Fati" – liegt der Schlüssel zu wahrer Freiheit und Erfüllung.
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