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Der Spotlight Effekt


Nicht selten hindert uns unser Schamgefühl daran, etwas zu tun oder zu sagen, das uns später peinlich sein könnte. Doch ist diese Hemmung auch tatsächlich berechtigt oder hindert sie uns daran unser Potential auszuschöpfen?



Lassen Sie mich eine Szene schildern, die Ihnen wahrscheinlich bekannt vorkommt: Sie gehen zur Arbeit und wissen, dass Ihre Frisur schlecht aussieht. Es ist ihnen an diesem Morgen einfach nicht gelungen, die Haare so in Ordnung zu bringen, wie Sie sich das gewünscht hätten. Während Sie an anderen Leuten vorbeigehen, spüren Sie, wie jeder Sie ansieht und Ihre komische Frisur bemerkt.


Ein anderes Beispiel könnte sein, dass Sie bei einem Meeting eine Präsentation halten. Voller Überzeugung und gekonnt präsentieren Sie den Anwesenden Ihre Überlegungen. Als Sie dann wieder Platz nehmen, stellen Sie fest, dass der Reissverschluss Ihrer Hose die ganze Zeit offen war.


Vielen von uns sind diese beiden Situationen peinlich und sie lösen bei uns Schamgefühl aus.



Schamgefühl ist nichts Aussergewöhnliches, wir alle haben es schon erlebt. Manchmal werden sie durch ungeschicktes Verhalten ausgelöst, wie etwa das Tragen eines vermeintlich unpassenden Kleidungsstücks, in anderen Fällen sorgen körperliche Merkmale, wie bei mir zum Beispiel leichtes Schielen, oder das Übertreten von moralischen Standards dafür, dass wir uns vor anderen blossgestellt fühlen.


Wir Menschen können uns nur schämen, weil wir uns selbst von aussen betrachten können, durch die Augen anderer. Es ist der Blick der anderen, so Jean-Paul Sartre, der uns bewusst macht, dass wir nicht nur Subjekte sind, sondern immer auch Objekte, Körperwesen, die den Urteilen anderer schonungslos ausgesetzt sind.


Schamgefühle entstehen vor allem dann, wenn wir das Gefühl haben gegen soziale Normen verstossen zu haben. Der genaue Auslöser für die Scham ist dabei ganz individuell: Situationen, in denen sich die eine Person extrem schämt, können einer anderen völlig egal sein. Ob und wie stark wir uns schämen, hängt davon ab, wie wichtig und bindend wir diese Norm oder Verhaltensregel selber einschätzen. Das bedeutet, dass unser Schamgefühl auch stark mit unseren persönlichen Wertevorstellungen zusammenhängt. Mir persönlich ist die Frisur sehr wichtig, wenn ich aus irgendwelchem Grund keine Zeit habe, die Haare korrekt zu richten, dann trage ich eine Kopfbedeckung und wenn es nur darum geht, um Mitternacht mit dem Hund nach draussen zu gehen.


Natürlich spielen auch die Wertevorstellungen der Kultur, der wir uns zugehörig fühlen und der Zeitgeist eine bedeutende Rolle. Einer der wichtigsten Schamauslöser ist, wenn Menschen denken, sie seinen schwach. Was als Schwäche und Stärke definiert wird, hängt wie gesagt, vom eigenen und des beeinflussenden gesellschaftlichen Wertesystems ab.


Kurz: Wenn wir uns schämen, verstossen wir gegen unser eigenes Idealbild – und fühlen uns deshalb den kritischen und Blicken anderer ausgesetzt ...


Dieses Schamgefühl hindert viele Menschen daran, sich zu exponieren, etwas auszuprobieren, Fragen zu stellen oder ihre Meinung zu äussern. Fast allen von uns ist es schon so ergangen, dass wir zum Beispiel an einer politischen Versammlung, einer Vorlesung an der Universität, einem Referat oder an einem Teammeeting bei der Arbeit teilgenommen haben und uns plötzlich eine Frage, ein kritischer Gedanke oder eine Idee durch den Kopf geschossen ist. Doch statt uns zu äussern, blieben wir still. Wir befürchteten, dass sich unser kritischer Gedanke als Irrtum, unsere Frage als bereits geklärt und unsere Idee als unrealistisch herausstellen würden und wir uns in deshalb vor den versammelten Menschen zum Narren machen würden.


Auch wenn Scham ein unangenehmes Gefühl ist, so hat dient es dem gesellschaftlichen Zusammenleben. Denn schlussendlich sorgt Scham dazu, dass wir versuchen, möglichst nah an der Normvorstellung unserer Gesellschaft zu leben. Scham führt uns dazu unser eigenes Verhalten zu hinterfragen und in der Folge anzupassen. Scham wirkt also in einer Gesellschaft regulierend. Stellen wir uns vor, wie das Zusammenleben in einer Gesellschaft mit Menschen wäre, die gar kein Schamgefühl hätten.


Problematisch wird es, wenn Interessensgruppen, Meinungsbildner oder Machthabende über das Schamgefühl versuchen die Menschen zu manipulieren. Wenn zum Beispiel religiöse Organisationen eine Wertegefüge schaffen, in welchem Homosexualität als etwas Negatives und somit Beschämendes angeschaut wird, oder wenn es in einer Gesellschaft verpönt ist, über die Rassengrenzen hinweg Beziehungen zu haben oder wenn versucht wird Menschen ein schlechtes Gewissen einzureden, weil sie z.B. wirtschaftlich erfolgreich sind, ein Auto haben oder Fleisch konsumieren.


Problematisch wird es aber auch, wenn wir als Individuen unser Handeln zu stark durch die Angst vor dem Schamgefühl leiten lassen, wenn wir versuchen Schamgefühl unter allen Umständen zu verhindern und deshalb unser Handeln massiv selber einschränken.


Viele Menschen können wegen der Angst vor Scham ihr eigenes Potential nicht vollends ausschöpfen. Stellen Sie sich vor Abraham Lincoln, Thomas Jefferson, Nelson Mandela, Sojourner Truth oder Martin Luther King hätten sich nicht getraut ihre Meinung zu äussern, stellen sie sich vor Rosa Parks, Marie Currie oder Amelia Earhart hätten sich davor geschämt, gegen geltende soziale Normen zu verstossen. Rosa Parks hätte nie auf den für weisse Menschen reservierten Plätzen in einem Bus in Montgomery Platz genommen, Marie Currie wäre nicht Wissenschaftlerin und Earhart nicht Pilotin geworden. Oder stelle sie sich vor Shakespeare, Tolstoj oder Virginia Wolf hätten sich geniert ihre Schriften zu publizieren, Elvis Presley, Mahalja Jackson oder Louis Armstrong hätten sich nicht getraut aufzutreten oder Mohammad Ali, Ronda Rousey, Wayne Gretzky oder Roger Federer wären dem Sport ferngeblieben, nur weil sie sich nicht für mögliche Fehler hätten schämen wollen.


Stellen Sie sich mal vor, welches Potential in Ihnen steckt, dass Sie nicht ausschöpfen, nur weil Sie das Schamgefühl davon abhält es zu versuchen.


Das Schlimmste ist, dass wir unsere Wirkung auf die Aussenwelt völlig überschätzen. Wir glauben, dass sämtliche Aspekte unsers Verhaltens und unseres Aussehens von allen um uns herum wahrgenommen werden. Die brutale Tatsache aber ist: Dem ist nicht so. Den meisten Menschen ist es ziemlich egal was sie tun und wie sie aussehen. Dieser Effekt wird in der Psychologie «Spotlight Effekt» genannt. Alleine das Wissen über diesen Effekt sollte uns eigentlich helfen, uns nicht zu sehr selber durch soziale Ängste einzuschränken.


Gemäss wissenschaftlichen Untersuchungen bemerken die meisten Menschen Unvollkommenheiten oder Fauxpas anderen Leuten gar nicht und wenn doch, werden sie diese mit grösster Wahrscheinlichkeit innert Sekunden ignorieren und sogar vergessen.


Weil wir derart viel Zeit damit verbringen, über unseren eigenen Körper, unser Aussehen, unsere Aussenwirkung und unser Verhalten nachzudenken, kommen wir zur Annahme, dass andere Menschen unserem Körper, unserem Aussehen und unserem Verhalten ebenfalls ziemlich viel Beachtung schenken. Tatsache aber ist, dass die anderen Menschen primär ebenfalls vor allem mit sich selber beschäftigt sind.


Die bedeutendste Studie zum «Spotlight Effekt» wurde von Tom Gilovich von der Cornell University durchgeführt. Die Resultate publizierte er im Jahr 2000 im Journal of Personality and Social Psychology[1]. Der Versuch ging wie folgt: Einzelne zufällig ausgesuchte Studenten wurden angewiesen, ein peinliches T-Shirt anzuziehen. Es handelte sich dabei um ein besonders kitschiges und auffälliges T-Shirt mit dem Sänger Barry Manilow. Barry Manilow galt damals unter Studenten als besonders peinlich. Die Studenten mit dem Barry Manilow Shirt wurden dann beauftragt sich in einen Saal zu begeben, um dort irgendeine Aufgabe zu lösen. Das Problem war, dass die Forscher schon eine grosse Gruppe in dem Saal versammelt hatten. Die Studenten mit dem Barry Manilow trafen somit verspätet, für alle sichtbar in den Saal ein. Im Saal wurde ihnen durch einen anwesenden Professor zuvorderst ein Stuhl zugewiesen. Kaum hatte sich die verlegene Person hingesessen wurde sie durch den Professor aufgefordert nach draussen zu gehen.


Nun wurde die Probanden gebeten zu schätzen, wie viele Leute ihr kitschiges Hemd bemerkt hatten. Die Personen, die das peinliche Kleidungsstück trugen, schätzten, dass es mindestens der Hälfte der Leute im Raum aufgefallen ist. In Tat und Wahrheit waren es gerade mal knapp 25 %, die sich daran erinnerten Barry Manilow gesehen zu haben.


In einer Situation, die so geschaffen wurde, um maximale Aufmerksamkeit zu erregen, nahm rund ein Viertel der Personen die Peinlichkeit wahr. Gilovich wiederholte das Experiment, diesmal liess er die Studenten aber ein "cooles" Hemd wählen, auf dem Jerry Seinfeld, Bob Marley oder Martin Luther King Jr. abgebildet waren. Auch in dieser Situation schätzten die Probanden, dass ihre Kleiderwahl bei mindestens der Hälfte der Anwesenden aufgefallen ist. Tatsächlich waren es nicht einmal 10 Prozent.


Gilovich wiederholte diese Untersuchung auch auf den belebten Strassen von New York. Obwohl die Probanden auch dort das Gefühl hatten, dass viele Augen auf sie gerichtet sind, haben die meisten Leute sie in Wirklichkeit gar nicht bemerkt.


Im Jahr 2002 führte Gilovich eine weitere Untersuchung zum «Spotlight Effect» durch[2]. Diesmal liess er Probanden ein wettbewerbsorientiertes Videospiel spielen. Danach musste die Spieler bewerten, wie viel Aufmerksamkeit ihre Leistung bei den Mitspielern und Gegnern erregte. Die meisten Spieler waren überzeugt, dass ihre Fehler, aber auch ihre guten Spielzüge durch die anderen bemerkt wurden. Das Resultat der Studie ergab dann aber, dass die Spieler vor allem auf ihr eigenes Abschneiden achteten, während dem sie nur sehr wenig Aufmerksamkeit für die anderen aufbrachten.


Wir müssen also nüchtern feststellen, dass wir viel weniger Aufmerksamkeit erregen, als wir vermuten. Nathan Heflick, leitender Dozent für Psychologie ander University of Lincoln in England schrieb dazu: "Der Spotlight Effect ist das Ergebnis von Egozentrik. Wir alle sind das Zentrum unseres eigenen Universums. Das bedeutet nicht, dass wir arrogant sind oder uns selbst mehr wertschätzen als andere. Vielmehr besteht unsere gesamte Existenz aus unseren eigenen Erfahrungen und unserer eigenen Perspektive. Diese Erfahrungen nutzen wir, um die Welt um uns herum zu bewerten, einschliesslich anderer Menschen. Anderen Menschen aber fehlt nicht nur das Wissen über z. B. den Fleck, den Sie auf dem Hemd haben, sondern sie sind selber auch das Zentrum ihrer eigenen Universen und damit wiederum auf andere Dinge fokussiert!"[3]


Zu behaupten, dass Menschen unser Verhalten überhaupt nicht wahrnehmen, wäre auch nicht ganz korrekt. Rodolfo Mendoza-Denton, Sozialpsychologe an der University of California, Berkeley, werden wir zwar wahrgenommen, aber nur recht kurzfristig. Unser Verhalten oder unser Äusseres wird rasch wieder vergessen. "Während wir noch daran herumstudieren, sind die Leute gedanklich wahrscheinlich schon weitergezogen. No big deal", so Mendozza Denton[4].


Wenn wir uns nun diesem «Spotlight-Effect» bewusstwerden, dann hilft es uns, seinen Einfluss auf uns zu minimieren. Positiv betrachtet bedeutet dies, dass wir uns viel weniger zurückhalten müssen, dass wir uns vermehrt getrauen sollten und viel weniger Angst vor Peinlichkeiten haben müssen.


Andererseits müssen wir ebenfalls anerkennen, dass wir auch viel weniger positiv auffallen, als uns das wohl lieb wäre. Wenn Sie also ein paar Kilo abgenommen haben, eine tolle neue Jacke oder Brille tragen oder die Frisur perfekt sitzt, seien sie nicht enttäuscht, wenn sie nur vereinzelt oder überhaupt keine Rückmeldung von anderen Menschen erhalten.


Also, denken Sie künftig daran, dass die meisten Menschen derart mit sich selber beschäftigt sind, dass sie die Fehler, Schwächen, vermeintlichen Peinlichkeiten und Fauxpas von anderen gar nicht bemerken.


Nutzen Sie dieses Wissen dazu, sich vermehrt zu Getrauen, um so allenfalls ihr Potential ausschöpfen zu können. Es gibt kaum was Schlimmeres, als zurückzuschauen und sich bereuend den Vorwurf zu machen: «Weshalb habe ich mich bloss nicht getraut…»


Ich hoffe, ich konnte Sie ein wenig zum Nachdenken anregen und etwas inspirieren.


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Herzlichen Dank an all jene, die das bereits getan haben!!! Das ist grandios!!!


Quellen: [1] Gilovich, T., Medvec, V. H., & Savitsky, K. (2000). The spotlight effect in social judgment: An egocentric bias in estimates of the salience of one's own actions and appearance. Journal of Personality and Social Psychology, 78(2), 211–222. https://doi.org/10.1037/0022-3514.78.2.211 [2] Gilovich, T., Kruger, J., & Medvec, V. H. (2002). The spotlight effect revisited: Overestimating the manifest variability of our actions and appearance. Journal of Experimental Social Psychology, 38(1), 93–99. https://doi.org/10.1006/jesp.2001.1490 [3] https://www.psychologytoday.com/us/blog/the-big-questions/201111/the-spotlight-effect [4] https://www.psychologytoday.com/intl/blog/are-we-born-racist/201206/the-spotlight-effect

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