Drei wilde Hunde und die Sehnsucht nach Lebendigkeit
Chaos oder Kontrolle – was brauchen wir wirklich, um uns lebendig zu fühlen? Und was passiert, wenn wir drei “Problemhunde” adoptieren, die unser mühsam geordnetes Leben auf den Kopf stellen? In der heutigen Folge geht es zwar um Hunde aber primär werfen wir einen Blick auf das Spannungsfeld zwischen absoluter Sicherheit und der Kraft des Ungewissen – inspiriert von einem brandneuen Buch des Australiers Markus Zusak, das genau dieser Frage nachgeht.
Das Buch mit dem Titel "Three wild dogs (and the truth)" von Markus Zusak, dem gefeierten Autor von "Die Bücherdiebin" ist am 21. Januar 2025 erschienen. Wer Zusaks frühere Werke kennt, rechnet vielleicht mit einer stillen, nachdenklichen Erzählung. Doch hier werden wir in eine raue, oft unberechenbare Welt katapultiert, in der drei Hunde die Hauptrollen spielen – Hunde, die nach gängiger Meinung das Etikett „Problemhunde“ verdienen: Frosty, Archer und Reuben. Alle drei wurden aus aus dem Tierheim adoptiert und galten als schwer vermittelbar. Warum tut sich der Autor das an? Wieso greift er nicht nach dem zahmen Hund, der von Anfang an hört und gehorcht? Und warum tun wir Menschen das grundsätzlich immer wieder – uns selbst ein vermeintliches Chaos ins Haus holen?
Diese Frage stellt sich wohl jedem Hundebesitzer irgendwann, besonders wenn er mitten in der Nacht wachliegt, weil sein Vierbeiner gerade Unfug treibt oder dringend raus muss. Aber auch alle, die sonst irgendwelche Haustiere halten, kennen das Gefühl nur zu gut. Wir selbst haben einen Hund, dazu noch zwei Katzen und sogar Hühner im Garten. Und jedes Tier bedeutet eine Verpflichtung: Man kann nicht einfach spontan verreisen, weil täglich gefüttert, rausgegangen und sauber gemacht werden muss. Gerade wenn ein Tier krank wird, spürt man die Last besonders – da sind Besuche beim Tierarzt fällig, Medikamente, ständig neue Termine.
Haustiere sind eine Bürde und trotzdem leben in der Schweiz über eine halbe Million Hunde, fast zwei Millionen Katzen, über 400’000 Reptilien, dazu kommen noch Kaninchen, Vögel, Fische etc. Über 40 % der Schweizer Haushalte haben ein Haustier… obwohl diese Haustiere das Leben nicht einfacher macgen. Warum also all diese Probleme „freiwillig“ auf sich nehmen? Genau darin liegt das Geheimnis dieses Buches und, wenn man so will, auch das Geheimnis des Hundebesitzes an sich.
Wir leben in einer Gesellschaft, die alles tut, um Chaos und Gefahren zu minimieren. Schneepflugeltern, manchmal auch Rasenmäher-Eltern genannt, räumen ihren Kindern jedes noch so kleine Hindernis aus dem Weg. Der Staat erlässt Vorschriften und Regulierungen, damit wir uns nur ja nicht verletzen, und wir alle wähnen uns in Sicherheit, wenn das Leben fein säuberlich durchgeplant ist. In Kanada mussten wir beispielsweise unser Ferienhaus staatlich als Ferienwohnung zertifizieren lassen. Das klang zunächst ganz harmlos – bis die Inspekteurin mit ihrer gewissenhaften Checkliste anrückte. Sie prüfte alles Mögliche, von Rauchmeldern bis zur richtigen Höhe der Vorhänge. Am Ende war ihre grösste Beanstandung tatsächlich, dass wir auf einer Seite des Bettes keinen kleinen Teppich ausgelegt hatten. Begründung: Ohne Fussmatte könne man sich beim Aussteigen aus dem Bett den Hals brechen. So kam es, dass wir für unser kanadisches Cottage erst das „offizielle Gütesiegel“ bekamen, nachdem wir einen pflichtbewussten Teppich neben dem Bett platziert hatten – zur Abwehr der allgegenwärtigen Stolpergefahr beim Morgenaufstehen. Vor lauter Sicherheitswahn und Regulierung sämtlicher Lebensbereich stellt sich die Frage: Wie viel Lebendigkeit bleibt dabei auf der Strecke?
Markus Zusak führt uns diese Frage drastisch vor Augen, wenn er beschreibt, wie die drei Hunde sein Leben auf den Kopf stellen. Seine Schilderungen machen klar, dass das nicht immer ein Zuckerschlecken ist: Besondere Erwähnung findet eine Episode mit einem Opossum, das einer von Zusaks Hunden in einem öffentlichen Park erwischt und tötet. Das Ergebnis: ein blutiges Durcheinander und die stressige Frage, wie man das tote Tier nun beseitigt. Aber das ist nur ein einzelnes Chaos unter vielen: An anderer Stelle sorgen wütende Nachbarn, ein Polizeibesuch oder teure Tierarzttermine für Aufregung. Denn kaum ist ein Problem gelöst, kündigt sich schon das nächste an. Man sitzt da und denkt sich: „Wieso all die Mühe?“ Doch genau da kommt der Clou: Inmitten dieses scheinbaren Durcheinanders entfaltet sich eine tiefe Intensität – jene Erfahrung, die wir nur machen können, wenn etwas nicht nach Drehbuch verläuft.
In der Psychologie spricht man vom Flow-Zustand. Dieser Begriff, geprägt von Mihály Csikszentmihalyi, beschreibt jenes beglückende Gefühl, vollkommen in einer Tätigkeit aufzugehen. Doch wer einmal Flow erlebt hat, weiss: Man erreicht ihn nicht, wenn alles immer brav nach Plan läuft und keinerlei Herausforderung besteht. Flow entsteht, wenn unsere Fähigkeiten und das vor uns liegende Problem in einem anregenden Spannungsverhältnis stehen – gerade gross genug, um uns zu fordern, aber nicht zu überfordern. Genau an dieser Stelle helfen uns Probleme, „Störungen“ und unvorhergesehene Ereignisse: Sie sorgen dafür, dass wir uns anstrengen, improvisieren und über uns hinauswachsen müssen.
Mit Hunden wie Frosty, Archer und Reuben erlebt Zusak immer wieder Situationen, die kein Ratgeberbuch vorhergesehen hat – und gerade darin liegt der Reiz. Wer alles minutiös vorplanen will, wird an solch ungezähmten Tieren verzweifeln. Wer aber bereit ist, das Risiko einzugehen, entdeckt die ungeheure Lebendigkeit, die in diesen Momenten steckt. Manche Szenen in "three wild dogs (and the truth)" sind hart. Zusak verschweigt nicht, dass all diese Tierarztbesuche, die nervenaufreibenden Nächte und die unerwarteten Kosten jeden an den Rand eines Nervenzusamnenbruchs bringen können. Doch genau das macht uns widerstandsfähiger – oder, resilienter.
Aus der Resilienzforschung wissen wir, dass ein gewisses Mass an Krisenbewältigung unsere psychische Widerstandskraft stärkt. Wer nie Schwierigkeiten erlebt, kommt mit echten Rückschlägen irgendwann gar nicht mehr klar. Daher fällt es auf: Obwohl wir in einer historisch einmaligen Sicherheitsgesellschaft leben – alles ist versichert, reguliert, relativ stabil – steigt bei vielen Menschen die innere Unsicherheit. Ängste, Depressionen und das Gefühl der Sinnlosigkeit sind an der Tagesordnung. Man fragt sich: Wie kann das sein, wo wir doch so abgesichert sind wie nie zuvor? Die Antwort könnte lauten: Genau darum. Wenn jede Klippe, an der wir uns stossen könnten, entfernt wird, verlernen wir, uns selbst etwas zuzutrauen. Wir verlieren den Kick, die Abenteuerlust und auch die Zuversicht, dass wir Probleme selbst lösen können. Nehmen wir nur das Beispiel der Schulkinder: Früher sah man in den Dörfern Kinder ganz selbstverständlich allein zur Schule spazieren – heute hingegen trotten sie Zweierkolonne mit leuchtend gelben Warnwesten durch die Strassen, oft begleitet von mindestens einer ebenso ausgerüsteten Aufsichtsperson, die den vermeintlich hochgefährlichen Schulweg „absichert“. Und das nicht etwa nur in grossen Städten mit grossem Verkehrsaufkommen und unberechenbaren Fahradfahreinnen, sondern in verschlafenen Bauerndörfern. Wenn wir diesen Trend weiterdenken, ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis die Kinder zusätzlich Helme aufsetzen müssen, um sich auf dem Fussweg vor potenziell herabfallenden Blättern zu schützen. Hier setzt das Buch ein deutliches Signal: Die drei Hunde sind nicht nur „Unruhestifter“, sie erweisen sich zugleich als Lehrmeister für Kraft, Ausdauer und eine Gelassenheit, die nur reifen kann, wenn man das Chaos aushält anstatt es zu umgehen.
In jeder grossen Erzählung – sei es in Mythologien, Märchen oder modernen Filmen – finden wir einen Spannungsbogen, den der Literaturwissenschaftler Joseph Campbell als Heldenreise bezeichnet hat. Da ist ein Held, der sich ins Ungewisse aufmacht, Hindernisse überwindet und daran wächst. Wir lieben solche Geschichten, weil sie uns an unsere eigene Existenz erinnern. Ein Buch oder Film ohne Konflikte wäre langweilig. Und doch tun wir im echten Leben alles, um genau diese Konflikte zu vermeiden. Wir planen unsere Tage durch, sichern uns gegen jedes kleine Risiko ab und glauben, so unsere Sorgen zu minimieren. Tatsächlich ersticken wir damit jedoch die Abenteuerlust.
"Three wild dogs (and the truth)" zeigt uns, dass das Unbekannte nicht nur Bedrohung, sondern eine Quelle von Energie und Sinn sein kann. Dieser Gedanke klingt an die Existenzphilosophie an, wie sie etwa von Søren Kierkegaard, Jean-Paul Sartre oder Albert Camus vertreten wurde. Das Leben ist unberechenbar, und genau darin liegt unsere Freiheit – aber auch unsere Angst. Kierkegaard nannte es den „Schwindel der Freiheit“: Sobald wir uns bewusst werden, dass alles möglich ist, empfinden wir Furcht vor dieser unendlichen Weite an Optionen. Nietzsche wiederum betonte, dass wir uns gerade an den Widerständen, am Leiden, am Chaos reiben und dadurch wachsen.
In Zusaks Geschichte machen Frosty, Archer und Reuben das Chaos greifbar. Sie sind laut, sie erfordern ständige Aufmerksamkeit und sie konfrontieren uns mit unserem Wunsch nach hundertprozentiger Kontrolle – den sie gnadenlos durchkreuzen. Genau dadurch entsteht eine Intensität, eine Nähe zum wahren Leben. Ein spannender Gedanke, den man hier anfügen kann: Soldaten, die aus dem Krieg zurückkehren, haben oft Mühe, sich in die scheinbare Normalität des Friedens einzufinden. Sie haben an der Front eine extreme Nähe zum Tod erlebt, was auch eine extreme Intensität des Lebens bedeutet. Die Heimkehr in einen ruhigen, geordneten Alltag kann dann paradoxerweise zu einem Gefühl der Leere führen. Etwas fehlt: der Adrenalinschub, die ständige Achtsamkeit, das Bewusstsein, dass jeder Moment der letzte sein könnte. Übertragen auf unseren Alltag bedeutet das: Je mehr wir alles glätten, desto mehr verlieren wir jene intensiven Momente, in denen wir uns wirklich spüren. Wir sehnen uns vielleicht in der Theorie nach Sicherheit und Gewissheit – in der Praxis brauchen wir jedoch eine Portion Wildnis und Chaos, um uns lebendig zu fühlen.
Was würde passieren, wenn wir unser Dasein wirklich bis ins kleinste Detail durchplanen könnten? Stellen wir uns vor, wir wüssten jeden Morgen, wie der Tag ausgeht. Stellen wir uns vor, jede potenzielle Überraschung wäre verbannt, jedes Hindernis bereits im Voraus „wegrationalisiert“. Wäre das ein Leben, das uns erfüllt? Wohl kaum. Je weniger unvorhergesehene Ereignisse auftauchen, desto langweiliger wird es – und desto schlechter kommen wir zurecht, wenn dann doch einmal etwas Ungeplantes passiert. Genau das ist der Punkt, an dem wir uns in vielen modernen Gesellschaften tatsächlich befinden: wir streben nach immer mehr Sicherheit, während unsere psychischen Probleme offenbar zunehmen. Es ist, als ob die Seele sich gegen diese Überregulierung wehrt. Wir brauchen einen gewissen Spielraum, wir brauchen Herausforderungen, wir brauchen sogar das Risiko des Scheiterns. Nur so erfahren wir Selbstwirksamkeit, Kreativität und Sinn.
"Three wild dogs (and the truth)" offenbart all das. Es ist unterhaltsam, es ist emotional, es rührt zu Tränen, wenn Abschiede nahen und die Hunde leiden oder wir mit ihnen. Zugleich ist es eine radikale Botschaft an unsere Gesellschaft: Sicherheit ist nicht alles. Wer sich drei Problemhunde ins Haus holt, wird womöglich verzweifeln – aber er wird auch das pralle Leben kosten, die echten Begegnungen, die Intensität, die Sinn stiftet. Man kann das Buch als Liebeserklärung an das Chaos lesen, als Plädoyer für eine Balance zwischen Vorsicht und Wagnis.
Zusak zeigt uns, wie viel wir an Lebendigkeit gewinnen, wenn wir uns trauen, ein Stück Unsicherheit willkommen zu heissen. Dass es wehtun kann, steht ausser Frage. Dass es nervt, kostet und uns in Schieflage bringt, ebenso. Doch all das ist es wert, denn am Ende sind es genau diese Durcheinander-Episoden, die unser Leben reich machen.
Vielleicht fragen Sie sich jetzt: Was nun? Soll ich mir spontan einen Hund anschaffen, meine Sicherheitsvorkehrungen schleifen lassen oder den nächsten Konflikt freudig suchen? Nicht unbedingt. Aber meine Einladung lautet: Denken Sie einmal darüber nach, an welchen Stellen Sie sich selbst zu sehr in Watte packen (oder packen lassen). Fragen Sie sich, ob es nicht gut wäre, ab und zu ein wenig Chaos zuzulassen. Ein Abenteuer starten, eine spontane Entscheidung treffen, etwas Neues lernen, was Sie noch nie gewagt haben – kurzum: eine kleine Unsicherheit in Ihren Alltag holen. Weil das Leben kein starres Skript sein muss, in dem alles geregelt und vorhersehbar ist.
Wagen wir es, mit offenen Armen zu begrüssen, was nicht in unseren Kalender passt. Solange wir atmen, haben wir die Freiheit, uns auch mal vom Weg abbringen zu lassen und dadurch neue Seiten an uns selbst zu entdecken. In diesem Sinne: Lesen Sie "Three wild dogs (and the truth)" und lassen Sie sich inspirieren, von den verrückten Wegen dieser drei „Problemhunde“ – vielleicht bringt es Sie dazu, das eigene Verhältnis zu Chaos und Kontrolle neu zu denken. Denn manchmal liegt genau in der Unordnung das Potenzial für ein erfüllteres, wahrhaftigeres Dasein.
So, das war’s. Ich hoffe, ich konnte Sie ein wenig inspirieren und vielleicht auch motivieren, das Buch Three Wild Dogs and the Truth zu kaufen. Ich bin sicher, es wird schon bald auch auf Deutsch erscheinen. Wenn Ihnen der Podcast gefallen hat, geben Sie ihm gerne ein Like. Und wenn Ihnen "Der Stoische Pirat" generell gefällt, dann schenken Sie mir bitte die maximale Bewertung auf Spotify, Apple Podcasts oder wo immer Sie den Podcast hören. Falls er Ihnen nicht gefällt – ignorieren Sie ihn einfach und bewerten Sie gar nichts.
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