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Ein gesegneter Tag – Lehren aus einer Begegnung mit einem Obdachlosen.




Kurz vor Weihnachten 2021 hatte ich eine Begegnung mit einem Obdachlosen in der kanadischen Stadt Moncton. Es war eine Begegnung, nach welcher der Obdachlose und ich etwas reicher waren. Sieben Lehren konnte ich aus diesem zufälligen Zusammentreffen ziehen. Lehren, die uns als Führungskräfte, Berufstätige als Eltern und generell als Menschen dienlich sein sollten.



Mit meinem Pickup Truck fuhr ich hinter das Eishockeystadion in Moncton/New Brunswick. Ich musste dazu ein offenstehendes Tor passieren auf welchem Stand «Zutritt nur für Befugte». In der Nähe des Lieferanteneingangs parkierte ich. Da der Boden schneebedeckt war, wusste ich nicht, ob ich überhaupt auf einem Parkplatz stand. Dies spielte aber auch keine Rolle, der grosse Platz war sowieso fast leer. Ein Tag vor Weihnachten nutzen ausser ein paar Spieler, die nicht nach Hause zu ihren Familien gereist waren, niemand die Arena. Einer davon war mein Sohn, denn ich in dieser Zeit in Kanada besuchte.


Da es draussen fast zehn Grad unter null war, wartet ich im Wagen, bis mein Sohn mit dem Training fertig war. Nach dem Training hatten wir geplant zum Mittagessen zu gehen. Ich hörte Musik und las irgendetwas auf meinem Mobiltelefon. Plötzlich sah ich rund 50 Meter von mir entfernt, wie ein Mann über den hartgefrorenen Schneeboden in meine Richtung ging. Zuerst dachte ich, dass es ein Sicherheitsmann sei, der mir sagen würde, dass ich hier nicht parkieren darf. Als der Mann näherkam, stellte ich fest, dass es sich um einen Obdachlosen handelte.


Auf der einen Seite des Stadions befindet sich die Haupteinkaufsstrasse, auf der anderen, von dort wo der Mann kam, das Industriegebiet der Stadt. Letzteres dient einigen Obdachlosen als Winterquartier. Sie finden dort Schutz in Eingängen oder in Garageneinfahrten, die während der Weihnachtszeit kaum benutzt werden.


Ich habe schon einige von ihnen dort gesehen. Manche haben einen Einkaufswagen mit ihrem Hab und Gut dabei, andere haben ein Zelt aufgestellt und wiederum andere haben einen Rucksack oder einige Plastiktaschen mit ihrem Eigentum bei sich. Alle sind sie eingehüllt in viele Decken, sie tragen warme Mützen, die sie meist tief über die Ohren gezogen haben, Handschuhe und dicke Jacken, die sie irgendwo gefunden, bekommen oder vielleicht gestohlen haben. Den Boden isolieren sie mit Karton. Was mir auffiel war, dass es sich ausschliesslich um Männer handelte.


Während der Zeit als ich dort war, von Mitte Dezember bis Mitte Januar, schwankte die Temperatur zwischen plus 5 und minus 40 Grad. Je nach Windstärke war die gefühlte Kälte noch um einiges brutaler. Ich bin überzeugt, dass der erste Gedanke jedes Menschen beim Anblick eines Obdachlosen während dieser Jahreszeit ist: «Was wäre, wenn ich in seiner Haut stecken würde?»


Da ich nicht unbedingt die Aufmerksamkeit des Obdachlosen erregen wollte, wandte ich mich wieder meinem Mobiltelefon zu, und hoffte, dass der Mann an mir vorbeigehen würde. Doch plötzlich klopfte es an meinem Fenster.


Der Mann lächelte mich an. Er war jünger als ich vermutet hatte, vielleicht dreissig Jahre alt. Unter seiner schief auf dem Kopf sitzenden Wollmütze schauten überall blonde, zusammenklebende Haarstränen hervor. Seine Augen waren auffällig hellblau, sein leicht gebräuntes Gesicht zwar gezeichnet, aber es hatte noch nicht dieses für Obdachlose typisch verwitterte Aussehen. Ich fragte mich, ob die Farbe seiner Augen einst dunkler gewesen war und nun aufgrund seines Schicksals verblasst ist. So wie sich eben auch die Haut eines Menschen verändert, wenn er härteren Lebensumständen ausgesetzt ist.


Unter seinem olivgrünen Militärparka trug der Mann ein Hoodie und einen Wollpullover. Auf dem Oberarm eines Ärmels gab es ein Loch, dass er mit Duct tape zugeklebt hatte. Sowohl die Jacke wie seine ausgefransten hellblauen Jeans waren schmutzig. Trotzdem wirkte der Mann nicht abstossend. Hätte man all die für einen obdachlosen Menschen typischen Merkmale entfernt, dann hätte der blonde Mann schon fast dem Stereotyp eines Surf- oder Tauchlehrers entsprochen. Er war auf jeden Fall typenähnlich mit dem Tauchlehrer, den ich vor rund 30 Jahren in Ägypten hatte.


Ich liess das Fenster meines Pickups runter und begrüsste ihn mit einem kurzen "Hi.".


«Hallo Sir, darf ich Sie etwas fragen?»


"Natürlich, schiess los."


"Hast du heute schon deine Segnungen gezählt?"


In der Erwartung, dass er mich um etwas Kleingeld bitten würde, war ich ziemlich überrascht über diese Frage.


"Was meinst du?"


"Nun, wie ich schon sagte, hast du heute deine Segnungen schon gezählt?"


"Nein... nicht wirklich. Warum?"


"Ist das nicht ein wunderbarer Tag?"


«Ja, das Wetter ist gut, aber es ist ein wenig kalt.»


Nachdem ich das gesagt hatte, wurde mir klar, wie lächerlich es war, sich bei einem Obdachlosen über die Kälte zu beschweren, während ich in einem geheizten Truck sass.


"Schau dich um, es ist ein schöner Tag. Und deshalb ist es so wichtig, seine Segnungen zu zählen. Je mehr man sich seiner Segnungen bewusst wird, desto glücklicher ist man."


"Da hast du absolut Recht. Und, hast du heute deinen Segnungen gezählt?"


"Oh ja. Als ich heute Morgen aufwachte und die Augen öffnete, war das Erste, was ich sah, der klare blaue Himmel. Da wusste ich sofort, dass dies ein guter Tag werden würde.»


"Und ist deine Vorhersage bis jetzt eingetreten?"


"Absolut. Weisst du, ich habe ein paar Meilen flussabwärts unter dem Vordach eines Schopfs übernachtet. Nachdem ich aufgewacht war, bin ich am Flussufer entlang Richtung Stadt gelaufen und rate mal, was ich gesehen habe?"


"Keine Ahnung."


"Zwei Weisskopfadler. Ich meine, das ist ein verdammt grossartiger Anblick. Es ist schon ein besonderer Tag, wenn man eine dieser Kreaturen sieht, aber gleich zwei auf einmal!"


"Das ist wirklich cool."


"Aber das ist noch nicht alles. Wenig später begegnete ich einem Mann, der bei Tim Horton's gerade eine Schachtel Donuts und ein paar Kaffees gekauft hatte. Als er in seinen Wagen einsteigen wollte, sah er mich und reichte mir einen Donut, einfach so. Siehst Du was ich meine, mein Tag ist gesegnet."


"Das war ein netter Kerl."


"Er war wirklich nett, er hat mir auch zwei Dollar gegeben, damit ich mir einen Kaffee kaufen kann."


"Wow."


"Also bin ich direkt zu der Tankstelle dort unten an der Strasse gegangen und bestellte mir einen Kaffee.“, er zeigte auf die Irving Tankstelle, welche sich rund dreihundert Meter von uns entfernt befand.


"Gut gemacht."


"Nein, warte! Ich bin noch nicht fertig mit dem Aufzählen meiner Segnungen. Als ich nämlich meinen Kaffee bestellte, gab mir die Dame an der Theke diesen umsonst. Sie wollte partout nicht, dass ich für den Kaffee bezahle. Ich bestand darauf, aber sie sagte: "Es ist bald Weihnachten und heute ist Dein Glückstag". Siehst Du, bis jetzt war mein Tag wahrlich gesegnet."


"Ja, ich stimme dir zu, du hast heute viele Segnungen gezählt. Was wirst du jetzt tun?"


"Ich werde mir ein Bier holen."


"Wirklich, das ist es, was Du jetzt tun wirst?" In meiner Aussage war wohl ein Unterton der Enttäuschung hörbar denn der Mann rechtfertigte sich umgehend.


"Ich glaube nicht, dass ich ein Trinker bin..."


"Nein, tut mir leid, das wollte ich nicht..."


Er unterbrach mich.


"Na ja, ich war mal ein Trinker, aber jetzt nicht mehr. Wenn man betrunken ist, ist man sich all der guten Dinge um einen herum nicht bewusst. Das habe ich gelernt, also habe ich mit dem exzessiven Trinken aufgehört.»


"Cool. Gut für dich! Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung."


"Trinkst du Bier?"


"Nicht viel, ab und zu."


"Zum Beispiel, wenn du etwas zu feiern hast?"


"Ja, genau."


"Ich denke, weil heute ein schöner Tag ist, werde ich mir auch ein Bier gönnen, kannst du das verstehen?"


"Na ja, das kann ich in einem gewissen Masse nachvollziehen."


"Aber weisst du was?" Er schaute mich mit einem fragenden Blick an.


"Du brauchst Geld, um ein Bier zu kaufen?"


"Nein, ich habe ja noch die zwei Dollar von dem Typen, der mir die Donuts gegeben hat."


"Ok, also, was ist es?"


"Wenn du Glück hast, wenn du einen tollen Tag hast, wenn du viele Segnungen zählst, solltest du dann nicht andere Menschen an deinem Glück teilhaben lassen, solltest du einen solchen Moment nicht mit anderen teilen?"


"Absolut, gute Momente mit anderen Menschen zu teilen, macht diese Momente noch besser», gab ich zur Antwort.


"Deshalb möchte ich auch nicht alleine ein Bier trinken. Ich möchte, dass meine Freunde mit mir glücklich sind. Deshalb hoffe ich, dass ich ihnen heute noch ein Bier anbieten kann. So können wir gemeinsam ein Bier trinken und unsere Segnungen, die wir haben, geniessen. Kannst Du das nachvollziehen?"


"Natürlich kann ich das."


Ich nahm 20 Dollar aus der Mittelkonsole und gab sie dem Mann.


Er lächelte herzlich, mit beiden Händen, an denen er Wollhandschuhe trug, die nur die Hälfte der Finger bedeckten, schüttelte er meine Hand und sagte zu mir:


"Du hast gerade meinen Tag um eine weitere Segnung bereichert. Ich sagte es ja, mein Tag ist gesegnet. Jetzt, wo ich Dich kennengelernt habe, weiss ich, dass es meine Ahnung richtig war. Einem Mann wie Dir begegnet man nicht jeden Tag, so wie man nicht jeden Tag zwei Weisskopfadler zu Auge bekommt. Du hast ein gutes Herz. Vielen Dank und vergiss nicht, Deine Segnungen zu zählen. Frohe Weihnachten.»


Der Mann liess meine Hand los, steckte die 20 Dollar in die Brusttasche seines Parka und machte sich in Richtung Stadtzentrum durch den Schnee davon.


Ich schloss das Fenster und schaute ihm im Rückspiel nach bis er hinter dem Stadion verschwunden war. Danach überlegte ich mir, ob ich nun gerade das Opfer eines sehr geschickten Schnorrers geworden bin.


Ich verwarf die Frage aber umgehend, weil die Antwort keine Bedeutung für mich hatte. Weshalb? Weil ich mich gut fühlte. Wieso sollte ich meinen Gefühlszustand selbst verschlechtern, wenn ich mich gut fühlte? Und, warum fühlte ich mich gut? Der Mann hat mir ein rund zehnminütiges interessantes Gespräch geschenkt und er hat mich zum Nachdenken angeregt. Er hat mir auch einen Grund gegeben einen Akt der Grosszügigkeit zu vollziehen. Bei jedem Akt der Grosszügigkeit werden wir mit einem Glücksgefühl belohnt und ist es nicht genau danach wo wir alle streben? Nach Zufriedenheit und Glückseligkeit?


Was können wir von dieser Geschichte lernen?


Lächeln

Lächeln ist ein Turöffner. Hätte der Herr ein grimmiges Gesicht gemacht, statt gelächelt, ich hätte wohl kaum das Fenster runtergelassen und mich auf ein Gespräch eingelassen.


Wissenschaftliche Studien[1] haben ergeben, dass Lächeln der Schlüssel zum Aufbau neuer Beziehungen ist. Ein Lächeln hilft, eine frostige Beziehung aufzutauen, Misstrauen zu entkräften und Feindseligkeit zu neutralisieren. Und das Beste: Ein Lächeln kostet nichts


Gibt es einen besseren Weg, eine Verbindung zu einem Menschen aufzubauen, als ihn anzulächeln?


Erwartungsmanagement

Der obdachlose Mann überraschte mich, als er mich nicht um Geld bat, sondern fragte, ob ich heute schon meinen Segen gezählt hätte.


Dadurch gelang es ihm, mein Interesse zu erwecken bzw. er vermied dadurch die Gefahr, für eine sofortige Absage.


Zudem war die Frage eine geschlossene. Als Befragter musste ich mir keine lange Antwort überlegen. Ein Ja oder ein Nein reichte. Mit der Antwort war die Grundlage für die Weiterführung des Gesprächs gegeben.


Positivität

Niemand mag es Zeit mit Menschen zu verbringen, die eine negative Aura haben, sich über alles und jeden beklagen, ständig jammern. Menschen, die sich permanent beklagen werden als Opfer war genommen.


Der Obdachlose hingegen strahlte trotz seines Lebensumstandes Positivität aus, statt sich darüber zu beklagen, dass die Welt nicht alles unternimmt, damit es ihm besser geht, wies er auf die positiven Erlebnisse des Tages hin. Auf die Segnungen, wie er es nannte. Statt als Opfer kam er als ein Mensch rüber, der den Moment besitzt.


Nicht nur fühlen wir uns wohl in der Umgebung positiver Menschen, Positivität ist auch anstecken.


Storytelling

Der Obdachlose erzählte die Geschichte seines bisherigen Tages. Es war eine Geschichte voller positiver und überraschender Ereignisse. Da wir alle gerne Geschichten haben, hört man dem Geschichtenerzähler auch gerne zu. Geschichten lösen bei uns Emotionen aus. In diesem Falle war es eine Geschichte voller positiver Gefühle und hilfsbereiten Menschen. Was noch fehlte war das Happyend: Nämlich das gemeinsame Anstossen mit Freunden auf diesen schönen Tag.


Wie bei jeder Geschichte, hoffen wir, dass diese ein gutes Ende findet. Da die Geschichte noch nicht vollendet ist, werden wir vom Zuhörer zum Beteiligten. Ich wurde plötzlich selbst Teil der Geschichte. Mit dem Hauptprotagonisten mitfühlend und im Bewusstsein, dass man den Ausgang beeinflussen kann, ist man nun willig dahingehend zu wirken, dass ein Happyend erreicht werden kann. Deshalb brauchte der Obdachlose nicht einmal nach Geld zu oder darum zu bitten. Ich gab es ihm aus freien Stücken.


Grosszügigkeit gibt uns ein gutes Gefühl

Wenn wir selbstlose Handlungen ausführen etwas Schenken oder jemandem Hilfe leisten, fühlen wir uns gut. E ist sogar wissenschaftlich belegt, dass ein Zusammenhang zwischen Grosszügigkeit und Glück besteht. Wissenschaftler konnten nachweisen, dass das Geben an andere einen Bereich des Gehirns aktiviert, der mit Zufriedenheit und dem Belohnungszyklus verbunden ist. Beim Schenken schüttet unser Gehirn nämlich Oxytocin aus, ein Hormon, das auch beim Sex und beim Stillen ausgeschüttet wird, das Gefühle von Wärme, Euphorie und Verbundenheit mit anderen hervorruft.


Höflichkeit übertrumpft Befehle

Nun, Sie habe auch gemerkt, dass ich eine Schwäche für nett und höflich vorgetragene Forderungen habe. Ich denke, dass ich damit aber nicht alleine bin. Ich bin überzeugt, dass wir Mitmenschen besser motivieren können, wenn wir eine Forderung anständig vorbringen und die Idee noch in eine Geschichte mit einer Vision zu verpacken. Letzteres dient dazu dem geforderten Tun Sinn zu geben. Ich habe dem Obdachlosen nicht Geld gegeben, damit er ein Pack Bier kaufen kann, sondern dafür, dass er mit Freunden diesen grossartigen Tag teilen kann.


Und natürlich:


Zähle jeden Tag Deine Segnungen

Bemühen Sie sich täglich, die guten Dinge im Leben zu schätzen. Versuchen Sie bewusst auf all die positiven Sachen, Ereignisse und Erlebnisse, die Ihnen jeden Tag widerfahren, die guten Menschen und hilfsbereiten Menschen, die Ihnen begegnen, zu achten. Viel zu oft halten wir solche Dinge für selbstverständlich, nehmen sie gar nicht mehr wahr und vergessen diesen die verdiente Wertschätzung entgegenzubringen. Seien Sie dankbar für die guten Dinge in Ihrem Leben, dass verhindert, dass Sie wegen den schlechten Dinge zu unglücklich werden.

[1] https://www.dailymail.co.uk/sciencetech/article-3098228/Smiling-really-ultimate-ice-breaker-humans-hardwired-spot-fakes.html

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