Energiekrise: Als plötzlich alles zum Stillstand kam
Die erste Energiekrise der Welt, von der kaum mehr jemand Bescheid weiss, ereignete sich vor fast 150 Jahren. Die Konsequenzen waren enorm. Schuld daran: Ein unbekannter Virus. Diese Episode in der Geschichte ist ein Lehrstück über die fatalen Folgen absoluter Abhängigkeit und dem naiven für selbstverständlich Halten von gewissen Dingen.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine Zeit des gesellschaftlichen Wandels. Zu Beginn des 19. Jahrhundert gab es in der Schweiz gerade mal 42 Siedlungen mit mehr als 2'000 Einwohnern. Nach 1850 kam es dann aber zu einer massiven Zunahme der Ortschaften mit 2'000 bis 10'000 Einwohnern. Hervorgerufen wurde dieser Ballungseffekt unter anderem durch den Bau des Eisenbahnnetzes und durch das Aufkommen der Metall- und Maschinenindustrie.
Mit der Urbanisierung und der fortschreitenden Industrialisierung veränderten sich auch die Lebensgewohnheiten der Menschen und somit auch ihr Wertesystem.
Vor allem in den Metropolen Europas und in den USA war dieser Wandel noch viel weiter vorangeschritten als in der Schweiz.
Richten wir nun unseren Blick nach Amerika. Die Amerikaner erlebten nach dem Bürgerkrieg bemerkenswerte Veränderungen in ihrem Alltag. Angefangen von der Kleidung, über das Essen, bis hin zu den Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Versandhauskataloge ermöglichten es der Landbevölkerung, neue Geräte zu kaufen und die neuesten Trends in Sachen Mode oder Haushaltsgeräte zu verfolgen, ohne jemals ein Geschäft betreten zu müssen. Das öffentliche Schul- und Universitätssystem wuchs rasant und entwickelte sich in Windeseile. Es entstand auch das Bedürfnis nach Freizeitangeboten. Zahlreiche Sport- und Kulturangebote versuchten das neue Bedürfnis nach Zeitvertreib und Vergnügen zu befriedigen.
Trotz den Herausforderungen, denen sich die Arbeiter in ihrer neuen Rolle als Lohnempfänger gegenübersahen, ermöglichte der Aufstieg der Industrie den Menschen den Zugang zu Konsumgütern wie nie zuvor. Die Menschen wandelten sich zu Verbrauchern, die schon fast verzweifelt nach zeitsparenden und freizeitorientierten Gütern suchten.
Vorbei waren die Zeiten, in denen der kleine Gemischtwarenladen die einzige Möglichkeit zum Einkaufen war; Ende des 19. Jahrhunderts konnten die Menschen mit dem Zug in die Stadt fahren und in grossen Kaufhäusern wie Macy's in New York, Gimbel's in Philadelphia und Marshall Fields in Chicago einkaufen.
Ladenketten wie A&P oder Woolworth's, die beide in den 1870er Jahren eröffnet wurden, fokussierten nicht auf die wohlhabenden Eliten, sondern auf die Lohnempfänger. Dank dem Fortschritt im Ingenieurswesen konnten grössere Häuser gebaut werden. Es entstanden Fabriken, Waren- und Lagerhäuser, damit die zeitnahe Bedürfnisbefriedigung der Kundinnen und Kunden sichergestellt werden konnte.
Der Beginn der 1870er Jahre war eine grossartige Zeit, voller Tatendrang und Hoffnung. Doch dann passierte in Nordamerika etwas, womit niemand gerechnet hatte. Etwas was niemand für möglich gehalten hätte, etwas, wofür niemand eine Antwort hatte. Und plötzlich war die ganze schöne neue Welt auf einen Schlag zu Ende… Zumindest für eine gewisse Zeit.
Es kam nämlich zur ersten Energiekrise. Nein, die erste Energiekriese war nicht 1973, sondern bereits 101 Jahre früher. Diese Energiekrise hatte derart weite Auswirkungen, dass sie uns als Lehrstück dienen sollte. Was mich erstaunt ist, dass dieses Ereignis aus dem Jahre 1872 eigentlich niemandem bekannt ist. Es ist für mich ein Beleg dafür, dass wir Menschen ein recht kurzes Gedächtnis haben, uns nicht wirklich für das Vergangene interessieren und uns sehr schwertun, aus der Geschichte zu lernen.
Wie bin ich auf dieses Ereignis gestossen. Ich habe gerade das Buch "A Traitor to his Species" des Historikers Ernest Freeberg gelesen. Es ist die abenteuerliche und unglaubliche Geschichte des Henry Berghs, dem Gründer des amerikanischen Tierschutzes. Dieser wohlhabende Gentleman kämpfte kompromisslos gegen alle, die Tiere misshandelten. Er machte dabei keinen Unterschied zwischen Gangstern, kriminellen Gangs, Gewerkschaften, Grossindustriellen, Politikern, Universitäten oder mittellosen Arbeitern.
Ein grossartiges und unterhaltsames Buch, über einen prinzipientreuen mutigen Mann. Auch liebe ich die bildhafte Beschreibung der damaligen Zeit. Ich finde das 19. Jahrhundert extrem spannend.
Aber fangen wir ganz vorne an.
Einige Kilometer ausserhalb von Toronto beobachtete Ende September 1872 ein Pferdebesitzer bei einer kleinen Gruppe seiner Pferde, dass diese schlapp waren, husteten und geschwollene Glieder hatten. Nur wenige Tage später trat die mysteriöse Krankheit auch erstmals in Toronto auf und verbreitete sich in Windeseile in den urbanen Ställen. Am 5. Oktober schrieb die Zeitung «The Toronto Globe»: «Seit einiger Zeit leidet eine grosse Anzahl von Pferden in der Stadt an einer Erkrankung der Atmungsorgane, nun hat sich die Krankheit in einem alarmierenden Ausmass unter den Pferden im ganzen Bezirk ausgebreitet." Pferdebesitzer und andere Beobachter waren ratlos. Immer mehr Pferde konnten den Stall nicht mehr verlassen, weil sie zu schwach waren.
Ab Mitte Oktober wurde die «kanadische Pferdekrankheit», wie sie zuerst genannt wurde, zu einer nordamerikanischen Krankheit. Pferde, welche von Kanada am 1. Oktober nach Detroit importiert wurden, brachten auch den Virus mit. Von Detroit aus verbreitete sich der Virus in rasender Geschwindigkeit in die grossen Städte im Osten der USA.
In Buffalo wurde der erste Fall am 14. Oktober registriert, keine Woche später waren von den 300 im Dienst der städtischen Strassenbahn stehenden Pferde nur noch drei einsatzbereit.
Der Virus fand in den 1870er Jahren in den Städten ideale Bedingungen vor. Tausende von Pferden wurden in engen, überfüllten Ställen gehalten. Die Pferde waren das innerstädtische Transportmittel schlechthin um den konsumfreudigen Städtern das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Pferde zogen Strassenbahnen, sie transportierten Waren, sie dienten in der Feuerwehr, bei der Polizei, bei den Rettungssanitätern oder bei den wohlhabenderen Menschen auch als privates Verkehrsmittel.
In den nächsten Monaten sah man in den amerikanischen Städten überall das gleiche Bild: Die Pferde litten unter anhaltendem Husten und wurden träge, die Augen waren halb geschlossen, die Ohren hingen herunter. Die Gliedmassen versteiften sich, die Gelenke knackten. Keuchend und fiebrig fielen viele erschöpft zu Boden. Nach Schätzungen waren 99% aller Pferde in Nordamerika innerhalb einem Jahr an dem Virus erkrankt. Die Mortalitätsrate lag bei rund 3 Prozent, wobei sie in den grossen Städten wie New York bis zu 10 % erreichte.
Stellen Sie sich nun mal vor, Sie wachen eines Morgens auf und stellen fest, dass kein einziges Transportmittel mehr funktioniert - keine Busse, kein Tram, keine Autos, keine Lastwagen, keine Schiffe (die Transportschiffe auf den Kanälen wurden ebenfalls durch Pferde gezogen).
Stellen Sie sich vor, was das bedeuten würde. Die Menschen könnten nicht mehr zur Arbeit oder zur Schule gehen. Es gäbe keine Lieferungen von Lebensmitteln und Waren an die Geschäfte. Das Gemüse und das Obst würden bei den Bauern verrotten. Die Fabriken kämen wegen fehlender Ersatzteile und abwesender Arbeiter zum Stillstand. In der Zwischenzeit wären Polizei, Feuerwehr und andere Notfallhelfer nicht in der Lage, auf Hilferufe zu reagieren. Die Regierung würde aufhören zu funktionieren (okay, es könnte eine positive Seite geben). Kurz gesagt, es wäre ein Albtraum.
Genau das ist im Oktober 1872 in Nordamerika passiert. Der Virus kam von einem Tag auf den anderen und alles stand still. Das Virus verbreitete sich über die Handelswege der ganzen Nation und reiste mit den Tieren, die die Schiffe auf den Kanälen, die Kutschen und die Waggons von einem Ort zum anderen zogen. In der dritten Oktoberwoche waren praktisch alle Städte von Bangor, über Boston, Connecticut, New York, Philadelphia, Detroit bis Chicago betroffen.
Das Stadt Bild hatte sich überall völlig verändert. Ende Oktober schrieb die «Chicago Tribune»: «Die Strassen sind menschenleer, die Geschäfte stehen still, das Dröhnen und Rumpeln des Verkehrs verschwunden, und über der Stadt liegt ein unheimlicher Mantel des Schweigens".
Weil die Krankheit derart schnell kam, hatte man auch keine Zeit, um sich vorzubereiten. Kam hinzu, dass man gar nicht wusste, wie man der Krankheit begegnen sollte. Expertenmeinungen gingen meilenweit auseinander. Einig war man sich lediglich darin, dass den Tieren keine Arbeit zugemutet werden kann und die Hygiene in den Ställen zu verbessern ist. Ansonsten stritten sich Veterinärmediziner untereinander über mögliche Ursachen und Behandlungsmethoden. Kam hinzu, dass noch zahlreiche weitere Experten ihre Meinung kundtaten. Von altgedienten Stallknechten, erfahrenen Pferdebesitzern, Homöopathen, Tierschützern, Wunderheilern bis hin zu Opportunisten kämpften ganz viele Leute um Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und um mögliche Aufträge.
Für einige Menschen war die Krankheit ein Strafe Gottes, für die Art und Weise wie die Menschen bisher die Pferde ausgenützt und missbraucht hatten.
Der wirtschaftliche Schaden war enorm. Da die Kohlebergwerke ihre Kohlen nicht mehr transportieren konnten, mussten fast alle Fabriken im Land schliessen. Schulen mussten geschlossen werden, weil sie nicht mehr geheizt werden konnten und es für Lehrer und Schüler unzumutbar wurde bei Temperaturen gegen die 0 Grad im November Unterricht zu betreiben. In der Bevölkerung machte sich wegen der sinkenden Temperaturen und dem näherkommenden Winter Panik breit. Der Mangel an Waren, die Hamsterkäufe von Kohle und Holz aber auch anderen Gütern trieb die Verkaufspreise in die Höhe. Die Armee konnte übrigens auch keine Hilfe leisten. Da auch die Pferde des Militärs betroffen waren, mussten die Soldaten in ihren Forts bleiben.
In der Not versuchten sich die Menschen mit alternativen Transportmitteln zu helfen. So wurden Ochsen, grosse Hunde, Schafe und Ziegen versucht vor die Wagen zu spannen. Dies aber mit sehr mässigem Erfolg. Die beste Alternative zu den Pferden war der Mensch. Dieser war aber bedeutend schwächer und teurer als die Pferde. In Boston soll ein verzweifelter Unternehmer eine grosse Anzahl Männer angeheuert haben, um eine riesige Maschine zu einem Kunden zu bringen. Neben den Schleppern bezahlte er auch eine Marschmusik, um die transportierenden Männer zu motivieren.
Vielerorts wurden die Strassenbahnen nun von Männern gezogen. Die Zufriedenheit der Kunden war aber mässig, weil die Fahrten nun massiv langsamer waren und auch der Fahrplan nicht mehr eingehalten werden konnte.
Eine massive Katastrophe ereignete sich am 9. November in Boston. Als der Feueralarm ertönte mussten Männer die schweren Feuerwehrwagen zum Ort des Geschehens ziehen. Trotz grossen Anstrengungen waren die Männer viel zu langsam. Als die Feuerwehr endlich vor Ort war, war das Feuer bereits derart stark, dass die Brandbekämpfung aussichtslos war.
Am Morgen waren siebzig Hektar des Bostoner Stadtzentrums, darunter der gesamte Finanzbezirk, durch das Feuer komplett zerstört worden. 776 Gebäude waren nun Schutt und Asche. Über 20'000 Arbeitsplätzen waren verloren gegangen. Der Schaden belief sich nach heutigen Zahlen auf über 1,5 Milliarden Dollar. Insgesamt kamen 30 Menschen, darunter ein Dutzend Feuerwehrleute ums Leben. 1'000 Menschen waren über Nacht obdachlos geworden.
Die grosse Feuerkatastrophe von Boston hatte einen weitreichenden Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung in den USA und entsprechend auch auf jene in Europa.
Die von der heute als Pferdeinfluenza bekannte Krankheit befallenen Pferde brauchten in der Regel mehrere Wochen Erholung, bis sie wieder einsatzbereit waren.
The «great Epizootic» dauerte rund ein Jahr. Gegen Ende 1873, nachdem die Tiere durchgeseucht waren, konnten sich die Städte in Nordamerika wieder erholen und fanden schrittweise den Weg zurück zur Normalität. Diese Epidemie war die erste, deren Verbreitung systematisch erfasst wurde.
Ein weiterer positiver Punkt dieses Ereignis ist, dass die Pferdehaltung in der Folge ein wenig verbessert wurde und der Tierschutz an Gewicht gewann.
Diese Geschichte zeigt uns aber auch, wie riskant es ist, wenn man in kompletter Abhängigkeit von etwas ist. Diese absolute Abhängigkeit gilt es meines Erachtens in allen Lebensbereichen zu verhindern. Auch das Unvorstellbare kann eintreffen, und zwar von einem Moment auf den andern.
Ich denke, wir sollten uns immer wieder überlegen, wo und in welchen Abhängigkeiten wir als Individuum aber auch als Gesellschaft stehen. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, was wäre, wenn.
Ende 1872 nahmen die Menschen die Leistungen der Pferde als selbstverständlich an. Was erachten wir heute als selbstverständlich?
Was wäre, wenn das Internet plötzlich nicht mehr funktionieren würde? Was wäre, wenn wir keinen Strom mehr haben? Was wäre, wenn mein Arbeitgeber plötzlich bankrott geht? Was wäre, wenn das Mobilfunknetz nicht mehr gehen würde? Was wäre, wenn Kühe und Schweine erkranken und uns nicht mehr als Nahrungslieferant zur Verfügung stehen würden?
Es gibt noch viele andere Dinge, auch in unserem persönlichen Umfeld, die wir als selbstverständlich betrachten und uns kaum Gedanken darüber machen, was wäre, wenn diese Sache oder dieser Mensch plötzlich nicht mehr da wäre.
Einerseits müssen wir vermeiden, dass wir in absolute Abhängigkeit von irgendetwas geraten, andererseits müssen wir jene Dinge, die wir als selbstverständlich anschauen, lernen zu schätzen und anfangen dafür dankbar zu sein.
Quellenangaben:
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