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Grossmut, Cancel Culture und General Henri Dufour


In diesem Essay befasse ich mich mit dem Schweizer General Henri Dufour, der altmodischen Idee der "Grossmütigkeit" und der Frage, warum wir die Tugend der Grossmütigkeit in der heutigen Zeit der Intoleranz, der Abschaffung der Kultur und des Hasses wiederbeleben sollten.




Mit Grossmütigkeit wird die Charaktereigenschaft beschrieben, Handlungen gegen die eigene Person vergeben zu können. Grossmut ist somit der eigentliche Gegenbegriff der «Rachsucht». Grossmut oder Grossmütigkeit als Tugend sollte insbesondere von Menschen in Machtpositionen befolgt werden.


Grossmut bedeutet nicht Fehler hinzunehmen oder darüber hinwegzuschauen, sondern die Fähigkeit, Respektlosigkeiten, Unzulänglichkeiten, Fehler aber auch moralische Schwächen von anderen Menschen, insbesondere auch Unterstellten, zu verzeihen. Einer, der das begriffen hatte, war Henri Dufour, Schweizer General und Gründer des Roten Kreuzes. Der Begriff der Grossmütigkeit ist zwar schon lange aus der Mode geraten, es ist aber höchste Zeit ihn zurückzubringen.


Auf Facebook hatte ich die Rede, welche der russische Aussenminister Sergej Lawrow am 24. September 2022 auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York gehalten hatte, geteilt. Ob der Mann die Wahrheit sagt, könne ich nicht beurteilen, es sei meines Erachtens aber wichtig, über die Argumente von Lawrow nachzudenken, habe ich dazu geschrieben.


Trotz des aus meiner Sicht neutralen Begleitkommentars, löste dieser Facebook-Post bei etlichen Menschen grosse Empörung aus. Die Aufforderung der Gegenseite Gehör zu geben, stösst heute bei manchen Leuten bereits auf Unverständnis. Besonders nachdenklich stimmt, dass dieses Unverständnis zum Teil sehr aggressiv und rechthaberische kundgetan wird.


Kaum ein vernünftiger Mensch würde zu dem Schluss kommen, dass einem Angeklagten das Recht verwehrt werden sollte, sich vor Gericht äussern zu dürfen. Nur wenn beide Streitparteien angehört werden, kann eine Ausgangslage geschaffen werden, die zu einer Verbesserung der als ungerecht empfundenen Situation führen kann. Letztlich geht es bei einer Verurteilung nicht darum, ein Urteil zu fällen, sondern den Beteiligten zu ermöglichen, zu einer gewissen Normalität zurückzukehren, Frieden zu finden, auch inneren Frieden.


Die Strafe ist somit lediglich Mittel zum Zweck. Durch das Strafmass wird sozusagen das Gleichgewicht, welches durch ein unrechtmässiges Verhalten gestört wurde, wiederhergestellt, und zwar bei Täterin und Opfer. Wenn nur einer Streitpartei zugehört wird, dann ist es nicht möglich ein von beiden Parteien als gerecht empfundenes Urteil zu fällen. Ein Weg zurück zur Normalität ist somit ausgeschlossen.


Wenn Menschen sich in irgendeiner Weise ungerecht behandelt fühlen, sei es durch einen verbalen oder körperlichen Angriff, Misshandlung oder gesellschaftliche Ablehnung, und sie keine Möglichkeit sehen, diese Situation mittels rechtlicher oder anderer vernünftiger Schritte zu beheben, dann sehnen sie sich nach Rache. Sich sozusagen Auge um Auge nach alttestamentarischer Art zu rächen, soll ein Gefühl der Läuterung und des Abschlusses vermitteln und somit den inneren Frieden zurückbringen.


Der von allen als gerecht empfundene und funktionierende Rechtsstaat verhindert somit Rachegelüste. Die Absenz von minimalen Regeln und deren Durchsetzung führen in einer Gesellschaft nicht zur Anarchie, wie oftmals befürchtet oder behauptet wird, sondern zu einer Lynch- und Selbstjustiz, welche schlussendlich in der Diktatur der Brutalen und Starken endet.


Oft wird meines Erachtens vergessen, dass eine Strafe auch durch den Bestraften als gerecht empfunden werden muss. Wird dem Prinzip der Verhältnismässigkeit keine Rechnung getragen, keimen beim Bestraften die Rachegefühle. Statt zu einer friedlichen Koexistenz führt das Urteil nach Beendigung der Strafe zu einer Eskalation des Konflikts. Dadurch wird die Frage nach der Schuld nun erschwert.


Es stellt sich die folgende Frage: Wenn der Konflikt aufgrund einer unverhältnismässigen Strafe eskaliert, liegt dann die Schuld bei der bestraften Partei, die den Konflikt ursprünglich ausgelöst hat, oder ist die Schuld nun auf den Bestrafer übergegangen, der es versäumt hat, die Situation durch eine gerechte Strafe zu befrieden?


Durch das Erdulden der Strafe hat der Bestrafte eigentlich seine Vergehen gesühnt und somit den Ausgleich für seine Missetat wiederhergestellt. Dass sich die Waagschalen nun in die andere Richtung bewegt haben und immer noch nicht in gleicher Höhe zu stehen kommen, ist durch den Bestrafenden verursacht worden.


Wer trägt nun die Schuld? Hätte der ursprüngliche Missetäter seine Tat nie begangen, dann wären wir gar nie in die Situation gekommen, dass die Waagschalen aus dem Gleichgewicht gebracht worden wären. Somit könnte argumentiert werden, dass die Urschuld beim Missetäter liegt. Wenn wir aber davon ausgehen, dass der Missetäter durch die Bestrafung gesühnt wurde und somit seine Missetat vergeben ist, dann liegt die Schuld nun beim Bestrafenden, der seine Macht überschritten und ein unverhältnismässiges Strafmass ausgesprochen hat. Aus dem Missetäter ist somit das Opfer geworden. Die Schuld hat sich nun, der Waagschale gleich, verschoben.


Um ein angemessenes Strafmass festzulegen, müssen die Richter versuchen, die Straftat in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen. Was hat zu der Straftat geführt? Was war die Motivation des Täters? Wie hoch ist der verursachte Schaden? Und so weiter. Dies erfordert den aufrechten Willen, beide Parteien so unparteiisch wie möglich anzuhören, und den Versuch, Verständnis für beide Seiten zu entwickeln. Da Emotionen unser rationales Denken und damit unser Urteilsvermögen einschränken, müssen wir in der Lage sein, unsere Emotionen beim Urteilen so gut wie möglich zu kontrollieren. Es ist keine leichte Aufgabe, wenn man als Richter Einfühlungsvermögen für beide Parteien zeigen muss, aber gleichzeitig darf man nicht zulassen, dass die eigenen Emotionen das Urteilsvermögen dominieren.


Es ist mir klar, dass Richterinnen und Richter über aussergewöhnliche Fähigkeiten verfügen müssen und diese Fähigkeiten von durchschnittlichen Menschen nicht in dieser Ausprägung erwartete werden können. Trotzdem ist es meine Meinung, dass von allen Menschen ein gewisses Mass an kritischem Denken verlangt werden darf. Ein Denken, dass sich nicht mit Scheinkausalitäten zufriedengibt, also nicht den Fehler begeht von einer Korrelation direkt auf eine Kausalität schliessen zu wollen. Ein Denken aber auch, dass sich mit den möglichen Konsequenzen einer Handlung und den allfälligen Konsequenzen der Konsequenzen auseinandersetzt.


Es ist mir bewusst, dass wir alle in einem gewissen Masse dem "Gesetz der unbeabsichtigten Folgen" unterliegen. Niemand ist in der Lage sämtliche kurz- bis langfristigen Auswirkung einer Handlung vorherzusehen. Unsere Imperfektion legitimiert uns aber nicht, mindestens den Versuch zu unternehmen mögliche Konsequenzen anzudenken.


Das Ziel jeder Streitpartei ist es, den Streit zu beenden, indem sie als vermeintliche Siegerin aus dem Streit hervorgeht. Es ist aber ein Trugschluss zu glauben, mit der Niederlage meines Gegners sei der Streit beendet und der Weg zum Frieden automatisch gegeben. Ist eine Niederlage demütigend, oder nutzt der Sieger die Situation aus, um sich am Unterlegenen zu bereichern oder zu rächen, dann wird der Konflikt weiter schwellen. Dem Besiegten sollte deshalb stets ein Ausweg offengehalten werden, wo der Gesichtsverlust der Situation entsprechend so gering wie möglich ist.


Auch sollte nicht der Sieg das primäre Ziel sein, sondern die friedliche Koexistenz der Konfliktparteien in der Zukunft. Der Sieg ist kann zwar zwingend notwendig sein, aber er ist wie die bereits besprochene Strafe, nur Mittel zum Zweck.


Einer, der dies erkannt hatte, war der Schweizer General Henri Dufour. Meines Erachtens, einer der grossartigsten Menschen, welche je die Geschichte unseres Landes geprägt hat. Am 5. November 1847, sozusagen am Vorabend der kriegerischen Handlungen des Sonderbundkrieges, wandte sich der Befehlshaber der eidgenössischen Truppen an seine Soldaten. In seinem eindrücklichen und wunderschönen Tagesbefehl schrieb der Humanist Dufour:


"…Soldaten! Ihr müsst aus diesem Kampfe nicht nur siegreich, sondern auch vorwurfsfrei hervorgehen; man muss von Euch sagen können:" Sie haben tapfer gekämpft, wo es Noth that, aber sie haben sich menschlich und grossmüthig gezeigt.


Ich stelle also unter Euren Schutz die Kinder, die Frauen, die Greise und die Diener der Religion. Wer die Hand an eine wehrlose Person legt, entehrt sich und schändet seine Fahne. Die Gefangenen und besonders die Verwundeten verdienen um so mehr Eure Berücksichtigung und Euer Mitleid, als Ihr Euch oft mit ihnen in demselben Lager zusammengefunden.


Ihr werdet Euch auf den Feldern vor unnützen Verwüstungen hüten, und die augenblicklichen Entbehrungen, die die Jahreszeit trotz allen Eifers, mit dem für Eure Verpflegung gesorgt werden wird, mit sich bringen kann, leicht zu ertragen wissen. Eure Führer werden sie mit Euch theilen, hört auf ihre Stimme und folget dem Beispiele, das sie Euch geben werden. Es ist oft verdienstvoller, die Mühen und Entbehrungen des Kriegslebens zu ertragen, als auf dem Schlachtfeld Muth zu zeigen."


Und am 22. November 1847, bevor er den Befehl zum Angriff in den Raum Luzern gab, sagte er zu seinen Soldaten:


"Ihr werdet in den Kanton Luzern einrücken. Wie Ihr die Grenzen überschreitet, so lasst Euren Groll zurück und denkt nur an die Pflichten, welche das Vaterland Euch auferlegt. Zieht dem Feind kühn entgegen, schlagt Euch tapfer und steht zu Eurer Fahne bis zum letzten Blutstropfen. Sobald aber der Sieg für uns entschieden ist, so vergesst jedes Rachegefühl, beträgt Euch wie grossmütige Krieger, verschont die Ueberwundenen, denn dadurch beweist Ihr Euren wahren Mut."


Es ist meine Überzeugung, dass wir uns diese Worte von Dufour verinnerlichen sollten. Statt uns dem zunehmend hasserfüllten Zeitgeist, welcher von intoleranten, selbstherrlichen Narzissten geprägt wird, die glauben mit ihrer Scheinmoral das Handeln und Denken der Menschen zu diktieren, sollten wir uns die altmodisch klingende Grossmütigkeit wieder aneignen.


Es ist Grossmütigkeit und Menschlichkeit, nicht Cancel Culture, und auf Scheinmoral begründete Verurteilungen sowie Bevormundung mit Denk- und Sprechverboten, welche Gesellschaften und Individuen zur friedlichen Koexistenz benötigen. Eine friedliche Koexistenz, welche wiederum die Grundlage von Wohlstand, Fortschritt, Freiheit und Zufriedenheit ist.


Grossmut bedeutet nicht Fehler hinzunehmen oder darüber hinwegzuschauen, sondern die Fähigkeit, Respektlosigkeiten, Unzulänglichkeiten, Fehler aber auch moralische Schwächen von anderen Menschen, auch von unseren "Gegnern" zu verzeihen. Also, lasst uns die Tugend der Grossmut zurückbringen. Auch wenn diese altmodisch tönt, ist sie in der heutigen Zeit dringend notwendig.


Wenn Sie auch der Meinung sind, dass wir mehr Grossmut gebrauchen, dann beginnen Sie damit die selber grossmütig zu sein. Teilen Sie aber auch Ihre Meinung in Ihren Kreisen mit. Und vor allem folgen Sie den Worten von Henri Dufour. Denn was für den Krieg git, gilt auch für das Leben. Sollten wir nicht alle, nicht nur ein erfolgreiches, sondern auch vorwursfreies Leben führen? Sollte man von uns nicht auch sagen können: "Sie haben tapfer gekämpft wo es Not tat, sich aber immer grossmütig und menschlich gezeigt"?


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