Kreativität ist nicht planbar - Ein Gespräch mit Prof. Dr. Dr. h.c Joachim Funke
Zusammen mit der Kommunikation, der Kooperation und dem kritischen Denken gehört die Kreativität zu den wichtigsten Kompetenzen des 21. Jahrhunderts. Was ist aber genau Kreativität? Kann man Kreativität entwicklen? Gibt es Kreativitätskiller? Nimmt die Kreativität mit zunehmendem Alter ab? Diese und weitere Fragen durfte ich mit Professor Dr. Dr. h.c. Joachim Funke diskutieren. Seine primären Forschungsinteressen liegen im Bereich von Denken, Problemlösen und eben der Kreativität.
Joachim Funke (geb. 19.07.1953 in Düsseldorf) ist seit 1997 Professor für Allgemeine und Theoretische Psychologie am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg. Promoviert wurde er 1984 an der Universität Trier. Im Jahr 1990 habilitierte er sich an der Universität Bonn. Funke war Gastprofessor an verschiedenen Universitäten, darunter Fribourg (Schweiz), Melbourne (Australien), Nanjing (China) und Szeged (Ungarn).
Folgend das Transkript des Gesprächs vom 2. März, 2021. Dieses Transkript wurde mit Hilfe künstlicher Intelligenz erstellt. Teilweise wurde es etwas angepasst. Es gilt deshalb das gesprochene Wort.
Stoischer Pirat: Es freut mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit mir über Kreativität zu sprechen. Sie sind ja auch Sie sind Professor an der Universität Heidelberg und leiten dort den Bereich der allgemeinen und theoretischen Psychologie.
Prof. Dr. Dr. h.c. Joachim Funke: Ja, das ist korrekt. Viele wissen nicht, was allgemeine und theoretische Psychologie ist. Die allgemeine Psychologie beschäftigt sich mit dem, was alle Menschen gemeinsam haben: Dass wir alle zusammen lachen können, dass wir Sprache benutzen, dass wir alle Gefühle haben. Das ist allgemeine Psychologie. Ich bin insbesondere Spezialist für die höheren kognitiven Funktionen, also nicht für elementare Funktionen, wie wahrnehmen und fühlen, sondern für das Denken, Problemlösen, Entscheiden und Kreativität. Jene Bereiche, wo sich der menschliche Geist sozusagen in Höchstform zeigt.
Stoischer Pirat: Sie befassen sich mit dem Denken, Problemlösen, dem Entscheiden, der Kreativität. Man darf auch sagen, Sie sind einer der bedeutendsten Experten in Europa zu diesen Themen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Joachim Funke: Es gibt viele Experten. Ich bin vielleicht einer davon. Ich würde mein Licht jetzt nicht zu groß leuchten lassen. Das müssen andere entscheiden.
Stoischer Pirat: Klar. Woher kommt das Interesse für Kreativität, für das Entscheiden, für das Problemlösen?
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Tausend Zufälle. Ich glaube, der allererste Zufall war, dass ich nach meinem Abitur nach Basel gegangen bin. Eigentlich wollte ich Bibliothekar werden. Die Universitätsbibliothek in Basel hat mich ungeheure fasziniert. Ein solcher Schatz an Büchern. Ich habe in Basel Philosophie studiert und ein bisschen Psychologie. Damals gab es in der Psychologie noch Freudsche Traumdeutung. Als junger Student, ich war gerade mit der Schule fertig, hatte ich den Kopf voller Flausen. Die Psychoanalyse hat mich fasziniert. Ich dachte: «Wie toll ist das, wenn man Träume interpretieren kann. Und das war mein Einstieg in die Psychologie. Bis ich irgendwann genug von der Traumdeutung hatte, weil ich mir dachte: «Oh Mann, die machen aus jedem Shit-Traum irgendeine Deutung…»
Stoischer Pirat: Es gibt viele verschiedene Arten wie Kreativität definiert werden kann. Welches ist ihre Definition?
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Für mich ist das eigentlich ganz einfach. Ich würde sagen, Kreativität heißt das Hervorbringen von etwas Neuem, das nützlich ist. Neu und nützlich sind die zwei Kriterien. Und die Nützlichkeit kann entweder für mich persönlich nützlich sein - dann nennen wir das Little C, das kleine K, die kleine Kreativität - oder es kann nützlich für die ganze Gesellschaft sein. Dann ist es big C. Das ist z.B die Solarzelle, die die ganze Welt verändert.
Wenn also Kreativität das Hervorbringen von etwas Neuem ist, was zugleich nützlich sein sollte, dann stellt sich die Frage wie es z.B. mit der Nützlichkeit von Kunstwerken aussieht. Ich würde sagen, ein Kunstwerk ist normalerweise nützlich, weil es ja irgendeinen Menschen unterhält, der sich auch Gedanken darüber macht. Von daher ist Kunst etwas Nützliches.
Ok, ich stehe auch manchmal vor Bildern, wo einfach nur ein Quadratmeter schwarze Farbe drauf gemalt ist. Und da frage ich mich auch: «Was will mir der Künstler damit eigentlich sagen?» Aber wenn man dann ein bisschen anfängt nachzudenken, merkt man, er stellt diese Abbildungen grundsätzlich in Frage und sagt und: «Muss Kunst wirklich immer nur abbilden?» Und schon fängt man an, auch über eine schwarze Quadratmeter Wand nachzudenken. Und vielleicht beginnt genau hier die Nützlichkeit. Vielleicht bringt gerade dieser Gedanke mich auf eine neue Idee.
Stoischer Pirat: Kreativität wird vielfach vor allem dem künstlerischen Bereich zugeordnet. Sie haben es aber angesprochen, eigentlich geht es bei der Kreativität um neue Ideen. Das heisst, Kreativität gibt es eigentlich überall, also auch im Alltag. Jeder Mensch braucht Kreativität.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Genau. Sie müssen ja irgendwo her, auf neue Ideen kommen. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, mich einzuladen? Das war ein kreativer Schachzug. Irgendwann ist Ihnen bei einer Tasse Kaffee eingefallen, ich könnte mal das Thema Kreativität zum Gegenstand meines Podcast machen. Und schon ist das für Sie völlig klar: Da könnte etwas Grossartiges entstehen. Man weiss ja nicht, was dabei rauskommt.
Kreativität ist ja auch ein Wagnis, etwas Neues zu machen. Vielleicht geht es schief, vielleicht passt es gar nicht. Viele Kreative haben hunderte Versuche gemacht und diese wieder weggeschmissen. Der Vincent van Gogh hat unzählige Male das halbe Kornfeld gemalt. Er hat das hundertmal gemalt, weil er mit den 99 Vorgängern nicht zufrieden war und gesagt hat: «Das ist noch nicht mein Standard.»
Stoischer Pirat: Kreativität hatte also auch mit Mut zu tun. Mut, Fehler zu machen. Haben wir in der heutigen Gesellschaft diesen Mut überhaupt? Ich habe manchmal das Gefühl, wir leben eine Fehlerkultur, in welcher Fehler nicht erlaubt sind.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Das ist ein guter Punkt. Ich bin dafür, jeweils den Fehler des Monats auszuweisen und nicht zu behaupten, dass wir völlig fehlerfrei sind. Menschen machen Fehler. Es ist doch viel besser, zu den Fehlern zu stehen und sich zu fragen: «Was kann ich daraus lernen, als vorzugeben, man sei perfekt.
Stoischer Pirat: Das denke ich auch. Wir können doch eigentlich nur weiterkommen, wenn wir aus den Fehlern lernen. Es wird gesagt, dass die wichtigsten Kompetenzen für das 21. Jahrhundert: Kritisches Denken, Kooperation, Kommunikation und eben Kreativität sind. Was halten Sie von diesem 4-K-Modell?
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Ich bin ein völliger Fan davon. Es ist meine Meinung, dass sich unsere Welt in einem Zustand befindet, wo wir viele kluge Ideen brauchen, um aus dem Schlamassel, den wir in den letzten 100 Jahren der Industrialisierung angerichtet haben, wieder ein etwas herauszukommen.
Es wird kaum leicht. Aber wir brauchen kluge Köpfe, wir brauchen Ideen, wir brauchen mutige Personen, die Ideen für die Zukunft entwickeln. Deshalb ist für mich die 4K Frage unendlich wichtig. Wir brauchen gute Bildungssysteme, welche mutige Schülerinnen und Schüler hervorbringt, die in diesen Kompetenzen fit sind.
Stoischer Pirat: Ist unser heutiges Bildungssystem diesbezüglich nicht eher kontraproduktiv?
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Man sagt ja, Schule ist der größte Kreativitätskiller, den man sich überhaupt vorstellen kann. Wenn Sie gucken, wie Sechsjährige zu Beginn der Schulzeit neugierig sind auf das, was in der Schule angeboten wird und wenn Sie dann sehen, wie 15-Jährige gelangweilt sagen: «Oh… morgen schon wieder Schule… schrecklich. Ich gehe lieber mit Freunden ein Videogamespielen…» Offensichtlich wurden diese Jugendlichen demotiviert.
Wir haben es nicht geschafft, den kindlichen Ehrgeiz, die kindliche Neugier so hochzuhalten, so am Leuchten zu halten, dass das über die Schulzeit hinweg anhält. Viele erleben die Schulzeit als demotivierende Phase. Das ist schade, sehr schade.
Stoischer Pirat: Absolut. Ich erlebe das selber jetzt bei meinen drei Kindern, die zwischen 16 und 12 Jahre alt sind. Jeder Mensch hat ja ein kreatives Potenzial. Die Schule müsste doch die günstigen Voraussetzungen schaffen, damit sich dieses Potenzial entfalten kann. Wie könnte man die Schulen reformieren, damit eben dieses Kreativitätspotenzial besser entwickelt werden kann?
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Wir wissen, dass der ständige Leistungsdruck ein Kreativitätskiller ist. Das ständige Evaluieren und Bewerten, macht natürlich Angst. Und wir haben eben über den Mut gesprochen. Und wenn Sie ständig mit dem Rotstift der Kontrolle danebenstehen. Ja Mann, da wage ich es ja gar nicht mehr etwas zu sagen, weil ich sofort denke, dass meine Idee vielleicht Quatsch ist und ich dafür eine schlechte Note kriege. Da halte ich doch lieber die Klappe und gucke, dass ich mich irgendwie durch Lavieren kann.
Also wir müssen von dem permanenten Bewerten, von dem Leistungsdruck in den Schulen wegkommen.
Aus der Kreativitätsforschung weiss man auch, dass es überhaupt nicht förderlich ist, wenn ständig einer Daneben steht, und fragt: «Kommst du jetzt voran? Hast du eine gute Idee?». Dann bin ich tot. Dann schaffe ich gar nichts mehr. Wir müssen die Kontrolle ein bisschen reduzieren. Ein bisschen mehr Freiheit.
Stoischer Pirat: Genau. Ich denke, das gilt für alle Gesellschaftsbereiche: Mehr Handlungsfreiheit und eben weniger Kontrolle. Ich habe manchmal das Gefühl, wir leben in einem Kontrollstaat. Alles und überall wird kontrolliert. Wir sollten die Leutevermehrt machen lassen, dann gedeiht auch die Kreativität und es entstehen die guten Ideen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Aber wir müssen natürlich aufpassen. Wenn man unkontrolliert arbeitet, dann passieren natürlich auch schlimme Dinge. Ich habe gerade am Wochenende von einem Dresdner Psychologieprofessor gelesen, der Geld in seine privaten Familienangehörigen investiert hat, was er eigentlich für öffentliche Forschung hätte gebrauchen müssen. Hier kommt jetzt natürlich die Forderung nach mehr Kontrolle. Es ist eine Gratwanderung. Man muss Vertrauen haben.
Stoischer Pirat: Ja, die Menschen dürfen nicht Angst haben, dass sie etwas falsch machen, sei es in der Schule oder bei der Arbeit. Kommen wir noch einmal auf die Schule. Setzen wir dort die richtigen Prioritäten? Gibt es nicht Fächer, die zu kurz kommen? Müsste nicht z.B. die Philosophie einen höheren Stellenwert haben oder auch die Kunst. Machen sie hier auch Verbesserungs- oder Optimierungspotential aus?
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Unbedingt. Ich glaube, wir haben ja im 21.Jahrhundert ein Schulsystem, was auf Ideen des 19.Jahrhunderts beruht. Und das ist nicht mehr zeitgemäß. Heute liegt mir im Internet eine Welt von Fakten vor der Nase. Muss ich deswegen heute wirklich noch Geschichtsdaten auswendig lernen? Ja, ein paar Eckdaten sollte man natürlich kennen. Weil wenn ich die nicht gelernt habe, habe ich überhaupt keine große Vorstellung auf großen Ganzen. Aber ich muss nicht alle Details haargenau wissen, die kann ich nachschlagen.
Stoischer Pirat: Ja, absolut. Wir haben eigentlich ein Schulsystem wie vor 150 Jahren. Die Kinder sitzen in Reih und Glied und wir haben einen Lehrer, der kontrolliert und bewertet. Dabei hätten wir doch heute die Möglichkeiten, viel individueller oder massgeschneiderte auf die Menschen einzugehen und somit auch die Möglichkeit das Potenzial von jedem Einzelnen zu wecken und zu nutzen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Das sehe ich auch so. Und ich glaube, da müssen wir wirklich kreative Ideen entwickeln, wie wir unseren Unterricht spannender machen, sodass die Kinder wirklich wieder Lust aufs Lernen haben. Wir bringen ihnen ja eigentlich bei, die Lust am Lernen zu verlieren. Und das ist so schade, weil da geht so viel Potenzial verloren. Und wie toll wäre das, wenn die Kinder sagen würden: «Ich gehe morgen in der Schule das und das machen. Kannst du mir nochmal zeigen, wie das hier funktioniert?» Wenn die Kinder ihre Neugier richtig zur Entfaltung bringen, dann laufen die von selbst.
Stoischer Pirat: Das ist genau das, was wir erreichen sollten.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Da sollten wir hinkommen. Das ist aber ein schwieriger Schritt, weil natürlich überall unterschiedliche Gesetze, unterschiedliche Vorgaben uns regulieren. Es braucht Freiheit, es ist ja auch ein Stück Freiheit, dass man sagt kann, vielleicht beschäftigt sich der eine Schüler mit einem unterschiedlichen Thema als der andere Schüler. Dass die beiden Schüler in der gleichen Klasse unterschiedliche Themen bearbeiten.
Stoischer Pirat: Aber das braucht natürlich auch kreative Lehrkräfte. Es braucht auch wieder Mut, sich vom Bekannten zu lösen. Das Bekannte ist komfortabel. Also man muss aus der Komfortzone treten und das ist dann auch nicht immer einfach.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Und das hat sehr viel mit der Psychologie der Kreativität zu tun, weil kreative Personen, ja häufig Nonkonformisten sind, die es wagen gegen den Strom zu schwimmen.
Hier in Heidelberg haben wir z.B einen Nobelpreisträger namens Harald zur Hausen. Der hat gesagt, eine bestimmte Art von Krebs wird durch Viren übertragen. Das hat er vor 30 Jahren gesagt. Da haben die Kollegen gesagt Krebs durch Viren übertragen. Quatsch. Völliger Blödsinn. Der hat 30 Jahre lang an seiner Idee festgehalten, weil er davon überzeugt war. Er hat fürchterliche Anfeindungen bekommen. Am Ende hat er Recht behalten. Ja, es gibt eine bestimmte Art von Krebs, die wird tatsächlich über einen Virus übertragen. Und da kann man sich heute gegen impfen lassen. Fantastisch! Es ist einfach Wahnsinn.
Es hat 30 Jahre lang gedauert. Der Mann wurde angegriffen als blöder Idiot, der Schwachsinns Ideen hat. Wie kann man sagen, Krebs wird über den Virus übertragen? So ein Quatsch. Der wurde fix und fertig gemacht. Der hat sich nicht unterkriegen lassen und ist seinen Weg beharrlich gegangen. Das ist enormer Nonkonformismus. Da braucht es sehr viel Kraft und psychischee Energie. Es braucht Glaube an die eigene Person. Das bringt nicht jeder zustande und das können wir auch nicht jedem abverlangen.
Stoischer Pirat: Nein, das denke ich auch. Sie haben jetzt gerade diese Merkmale angesprochen: Beharrlichkeit, Mut, Nonkonformist zu sein. Gibt es Persönlichkeitsmerkmale, die wirklich typisch sind für kreative Menschen?
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Es gibt zumindest, wenn man die kreativen Personen mal anschaut, so einige Gemeinsamkeiten, die wir bei allen finden. Das sind Personen, die tatsächlich wenig Angst haben. Das sind in gewisser Weise «Sensations-Seekers» und nicht Personen, die dem Neuen vorsichtig gegenüberstehen. Xenophobie gibt's da gar. Es sind Leute, die sich alles angucken, was Neue auf den Tisch kommt, die essen Heuschrecken, weil sie sagen «Lass mich mal probieren, mal gucken, ob es schmeckt». Ja, daran sieht man schon. Wagt jemand, sich auf neue Dinge einzulassen? Haben Sie schon mal Heuschrecken gegessen?
Stoischer Pirat: Hab ich tatsächlich.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Das finde ich immer ein gutes Zeichen. Wagt es jemand, so etwas zu versuchen. Viele andere sagen Nee: «das rühre ich überhaupt nicht an. Ich will von meinen gewohnten Pfaden nicht abweichen. Ich will mein Burger haben».
Der schlimmste Feind der Kreativität ist die Routine. Routine ist der Tod der Kreativität. Und das sehen wir im Unternehmen. Wenn wir Routine Jobs haben, da kommt nichts, nichts Neues zustande. Man muss gegen die Routine angehen. Man muss auch wirklich den Mut haben, mal eine Heuschrecke zu probieren, auch wenn sie vielleicht nicht super schmeckt. Aber man muss es wenigstens mal ausprobieren.
Stoischer Pirat: Sie haben den Begriff «Sensation-Seekers» gebraucht und sie haben geraten die Routine zu brechen. Sollten Unternehmungen nur noch «Sensation-Seekers» einstellen? Und wie könnte man diese Routinen in der Arbeitswelt vielleicht brechen?
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Ja, es ist schwierig, jetzt zu sagen, man sollte bei der Auswahl nur die «Sensation-Seekers» bevorzugen. Ich gucke natürlich auch darauf, was haben die Leute für Wissen? Weil jemand, der kreativ sein will, der muss auch eine Menge Wissen anhäufen. Heutzutage kriegen wir keine gute Idee mehr zustande, wenn wir uns nicht mit den vorliegenden Befunden in einem bestimmten Bereich näher auseinandersetzen und Wissen anhäufen.
Wissen ist die Voraussetzung dafür, dass ich überhaupt was Kluges, Neues schaffen kann. Und sonst entsteht da nicht viel Grossartiges draus.
Wie ich bei der Auswahl vorgehen würde? Ich würde natürlich gucken sind es Leute, die auch Wagnisse eingehen oder sind es ängstliche Personen? Die ängstlichen Personen trauen sich häufig nicht mal eine mutige Idee in den Raum zu stellen. Ich arbeite ja im akademischen Bereich. Im akademischen Bereich ist das eigentlich völlig ungefährlich mal eine wilde Idee zu äussern. Man wird deswegen nicht sofort überfahren. Ja, das ist in einem anderen Bereich vielleicht gefährlicher. Und trotzdem gibt es ganz viele Akademiker, die sich nicht trauen, mal gegen den Stachel zu löcken und ein bisschen Widerspruch zu zeigen, sondern die sind fürchterlich angepasst. Ganz schrecklich!
Stoischer Pirat: Ein wichtiger Punkt ist jener des Wissens. Heute heisst es oftmals etwas salopp, Kreativität brauche einfach “Thinking out oft he Box». Aber ich habe das Gefühl, man muss zuerst mal die Box kennen, bevor man überhaupt außerhalb der Box denken kann.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Exakt das ist die Voraussetzung dafür, dass ich überhaupt weiß, was ist der heutige Standard. Erst dann kann ich versuchen, davon abzuweichen. Ich hatte mal einen Vortrag vor VW Ingenieuren, die mich auch nach kreativen Ideen gefragt habe. Da habe ich gesagt: «Stellen Sie sich mal ein Auto vor, was nicht vier Räder hat». Großes Entsetzen. Ein Auto, das nicht vier Räder hat. Funktioniert nicht. Man ist oft zu eingefahren auf ganz bestimmte Gewohnheiten. Natürlich haben sich die vierräderigen Autos gut bewährt. Ich würde auch nicht verlangen, das man dieses Modell vorschnell aufgeben sollte. Aber das wir überhaupt mal wagen, einen Schritt in eine andere Richtung denken. Eben «out of the box» zu denken und nicht nur in unserer Box zu bleiben. Vielleicht gibt es wirklich Ausnahmen, wo man sagt, in bestimmten Bedingungen kann man sich auch andere Antriebsformen vorhersehen.
Was kann ein Unternehmen machen, um Kreativität zu fördern? Ich bin gefragt worden, ob es sinnvoll wäre den Mitarbeitenden freitags nachmittags frei zu geben, um kreativ zu sein. Nein, so geht Kreativität nicht. Kreativität kann man nicht verordnen. Freitagnachmittags von zwei bis fünf ist eine kreative Stunde. So läuft das nicht.
Kreativität ist eine ganz bestimmte Haltung zum Umgang mit der Welt und den Aufgaben, die uns dort begegnen. Und in dieser Haltung kommt eben zum einen das Bedürfnis nach Freiheit zum Ausdruck und auf der Gegenseite des Vertrauens, das mir die Freiheit gegeben wird und ich die Freiheit nicht missbrauche, um mich in den drei Stunden an den Strand zu legen und mich einfach zu sonnen. Wobei das vielleicht ganz kreativ wäre.
Stoischer Pirat: Man kann also nicht einfach auf Kommando kreativ sein. Früher hatte man ja das Gefühl, dass wenn jemand kreativ sei oder eine gute Idee hat, es sich um göttliche Eingabe handelt. Heute ist man nicht mehr ganz dieser Meinung. Wie funktioniert kreatives Denken?
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Wir haben es bis heute nicht richtig verstanden. Es ist auch von ganz vielen Zufällen abhängig. Die Rolle des Zufalls, die darf man nicht unterschätzen. Wir sehen es in der Wissenschaft. Viele Entdeckungen sind einfach durch Zufall entstanden und nicht absichtsvoll, sondern vielleicht durch einen Fehler im Labor. Plötzlich wächst da eine Zellkultur, wo sie eigentlich nicht wachsen dürfte und man fragt sich, warum passiert da jetzt etwas Ungewöhnliches in meiner Petrischale? Und schon hat man vielleicht irgendwas entdeckt. Durch Zufall. Was eigentlich gar nicht auf dem Programm stand.
Neugier ist eine ganz wichtige Triebfeder und Offenheit für das, was um mich herum passiert. Und von daher bin ich skeptisch, wenn man versuchen will, Kreativität zu verordnen. Das funktioniert nicht.
Stoischer Pirat: Man muss eigentlich nur die günstige Voraussetzung schaffen für Neugier, und Offenheit, sowie genügend Handlungsfreiheit geben. Es gibt ja auch die Meinung, dass kreative Menschen so geboren werden..
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Nein, dafür bin ich nicht zu haben. Ich glaube, in jedem von uns stecken kreative Potenziale. Die Evolution hat uns ja mit der Fähigkeit des Problemlösen ausgestattet. Ich glaube, viele Menschen sind viel kreativer als sie denken. Das ist jetzt nicht Bicg C. Das ist nicht die große Kreativität, die gesellschaftsverändernd ist. Aber das ist Little C. Das ist das kleine Kreative, die Kreativität im Alltag, und die ist auch beachtlich, die zeigt, welche Potenziale in uns stecken. Wir sind heute nicht mehr der Meinung, dass Kreative eine besondere Spezies Mensch sind, die von Geburt an clever sind. Auch die Rolle der Intelligenz. Wir würden ja heute nicht sagen, dass man mindestens einen IQ von 140 braucht, um kreative Leistungen zu bringen. Natürlich sollte man nicht unterdurchschnittlich begabt sein. Das ist eine Grundvoraussetzung. Aber es gibt nicht irgendeine Mindestanforderung an den IQ Wert, oberhalb dessen erst Kreativität möglich wäre. Das stimmt einfach nicht.
Stoischer Pirat: Wie sieht es aus mit dem Alter? Nimmt die Kreativität mit zunehmendem Alter ab?
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Naja, sie ändert sich. Die Kreativität im jungen Alter bringt vielleicht einen Physiker dazu, irgendein kompliziertes Gleichungssystem auf neue Füße zu stellen. Das kann man vielleicht mit 20, mit 30 relativ gut bewältigen, weil man ganz viele Dinge im Kopf behalten muss. Das schaffe ich als über 60jähriger nicht mehr. Aber als über 60jähriger habe ich andere Stärken und kann in anderer Weise kreativ sein. Berühmte Kunstwerke in der Musik, in der Malerei, die sind häufig Alterswerke. Schauen Sie, Pablo Picasso, der mit 80 großartige Bilder gemalt hat? Ja, die Bilder, die er mit 20 gemacht hat, völlig anders. Mich haben diese nicht so angerührt wie sein Alterswerk.
Stoischer Pirat: Wir haben vorhin davon gesprochen, dass Routine sehr schlecht ist für die Kreativität. Was gibt es sonst noch für Kreativitätskiller, die es zu vermeiden gibt.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Was man verhindern muss, ist eben zum einen der permanente Evaluationsdruck, der auf uns lastet. Wenn ich halbjährlich zeigen muss, was für tolle Ideen ich geliefert habe, erzeugt dies Stress. Das ist keine gute, entspannte Situation, wo ich einfach mal vor mich hinträumen und vielleicht irgendwas Blödes entwickle kann, was sich hinterher als vielleicht als sehr wirkungsvoll herausstellt.
Ich brauche die Freiheit und von daher ist jede Einschränkung von Freiheit, jede Form von Kontrolle eigentlich schon ein Stück kreativitätskillend. Je mehr ich eingeengt und eingeschränkt werde, je mehr Vorschriften es gibt, desto weniger kann ich meinen Geist frei wählen lassen, dann kann sdie Kreativität auch nicht mehr völlig zur Entfaltung gebracht werden.
Auf der anderen Seite sagt man ja, der Krieg ist der Vater aller Dinge. Unter Notsituationen komme ich häufig unter Zwang auf gute Ideen. In der früheren DDR, sagt man, ist die Rennpappe entstanden, so hieß der Trabbi oder Trabant. Die hatten keinen Stahl, weil das war einfach Mangelware. Dann kam einer auf die Idee, vielleicht kann man hochwertige Pappen Deckel nehmen und die haben eine Karosserie aus fester Pappe genommen, die sogar Regen fest war. Wunderbar. Es ist zwar nicht das Material, von dem man träumen würde. Aber es war eine gute Ersatzlösung.
In Kriegszeiten gibt es immer wieder Hinweise darauf, dass auch unter dem Druck der Situation neue Dinge entstehen. Das ist auch eine Art von Kreativität. Von daher muss man dieses Argument, dass ständige Kontrolle und Druck überhaupt nicht gut sei, auch differenzieren. Manchmal kann gerade der Druck dazu führen, dass sich Leute hinsetzen und sich Gedanken darüber machen, wie sie die Situation verbessern können.
Stoischer Pirat: In der Not wird man kreativ
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Not macht erfinderisch, heißt es in im Sprichwort. Da ist sicher was dran. Aber generell gilt, dass permanente Kontrolle und permanente Evaluation Kreativitätskiller sind.
Ein anderer Kreativitätskiller kann meine Freizeitbeschäftigung sein. Wenn ich die ganze Zeit vor dem Fernseher hocke und mich berieseln lasse, kommen mir wohl nicht viele gute Ideen, Das ist nicht anregend. Vielleicht muss ich mir da auch in der Freizeit andere Beschäftigungen suchen, die mehr Anregungen bringen.
In der Arbeitswelt muss ich mir vielleicht Herausforderungen selbst suchen, die mein Chef mir gar nicht gibt, weil er mich jeden Tag immer dasselbe machen lässt. Dann muss ich vielleicht für mich überlegen, wo es allenfalls irgendwelche Räume gibt, wo ich mal was interessantes Neues ausprobieren kann?
Also Kreativitätskiller gibt es viele. Wir müssen umgekehrt fragen, wie können wir Orte schaffen, an denen Kreativität blüht und gedeiht? Wie können wir dieses zarte Pflänzchen, was ja offensichtlich sehr empfindlich ist und ganz schnell trockengelegt werden kann? Wie kann man dieses zarte Pflänzchen zum Blühen bringen? Wie kann man Räume schaffen, in denen «creative milieus» entstehen? Das ist natürlich eine spannende Frage.
Wir wissen aus der Geschichte, aus der Menschheitsgeschichte, dass es immer wieder z.B. Orte gegeben hat, die sehr kreativ waren. Wien im ausgehenden 19. Jahrhundert. Das war nicht nur Siegmund Freud. Da waren viele Künstler, da waren Musiker, da waren Wissenschaftler. Das war eine Gemengelage, die muss hochspannend gewesen sein. Ich wäre gerne Mäuschen gewesen im ausgehenden Wien des 19.Jahrhunderts.
Aber wenn sie dann gucken, dann gab's eine Zeit, da war Wien überhaupt nicht mehr anregend. Überhaupt nicht der kreative Hotspot. Die Hotspots wandern, und wir wissen bis heute nicht genau, woran das liegt, dass ein Hotspot plötzlich London heißt, dann Berlin und dann ist plötzlich das Ruhrgebiet der Hotspot. Ja, wie kann das sein? Ausgerechnet dieser schmutzige Kohlenpott bei uns in der Bundesrepublik, ein Gebiet, wo man gesagt hat, das ist sowieso down, entwickelt sich plötzlich zu einem künstlerischen Hotspot. Warum? Ich finde, das sind spannende Entwicklungen. Da muss man hingucken. Wir müssen uns fragen, wie kann man Creative Cities gestalten?
Der Richard Florida hat ein Buch geschrieben mit dem Titel «Creative Cities», in welchem er beschrieben hat, dass wir Städte entweder langweilig oder zu Orten machen, wo man interessante Menschen trifft. Wir sind ja kollektive Wesen. Wir lernen viel voneinander, wir lernen miteinander und wir kriegen Anregungen. Vielleicht kriege ich aus dem Gespräch mit Ihnen noch irgendeine tolle Erregung. Und Sie kriegen von mir ein paar Anregungen und schon haben wir beide doch gewonnen. Das ist doch eine Win-Win-Situation. Großartig.
Stoischer Pirat: Aber haben Sie nicht auch das Gefühl, dass wir uns heute in einer Art polarisierenden Welt bewegen, wo man sich nur noch bestätigt sehen will und man eben diesen Austausch mit Andersdenkenden, anderen Menschen oder anderen Ideen gar nicht sucht, sondern man sucht nach Bestätigung.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Ja, natürlich sucht man nach Bestätigung, weil alles andere natürlich Angst macht. Ja, wir haben es mit einem generellen Phänomen zu tun, dass Menschen möglichst angstfrei sein wollen. Und wenn ich mich mit Menschen umgebe, die alle meiner Meinung sind, prima, dann fühle ich mich viel wohler, als wenn da Personen sind, die eine andere Meinungen haben. Das macht das Leben schwieriger. Das muss man aushalten können.
Stoischer Pirat: Man muss es aushalten können. Haben Sie vielleicht einen Tipp für jemand, der eine gute Idee hat und dann stösst er nur auf Widerstand? Was soll man tun, damit man nicht aufgibt? Wie muss man da vorgehen?
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Man muss einfach hartnäckig bleiben. Ich habe eben das Beispiel von diesem Nobelpreisträger Harald zur Hausen genannt. Der hat einfach nicht aufgegeben, auch wenn ihn alle um ihn herum - und es waren viele kluge Leute dabei - gesagt haben Du bist ein Idiot und du hast dich verrannt. Er hat hartnäckig daran weitergearbeitet.
Viele Erfindungen, Disruptionen in der Geschichte der Menschheit hat man nicht kommen sehen. Es war im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts klar, man braucht breitere Straßen für die Kutschen. Eines Tages gab es aber keinen Kuchen mehr. Das ist die Disruptionen. Als Steve Jobs den ersten iPod tragbare Musik vorgestellt hat, hat jeder gefragt: «Wofür brauchen wir tragbare Musik? So ein Quatsch».
Stoischer Pirat: Interessant, wenn Sie von Steve Jobs sprechen. Als seine Mitarbeiter ihm das Iphone vorgeschlagen haben, war er abgeneigt. Man ist manchmal kreativ, manchmal ist man eher konservativ.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Genau. Es sind einfach auch viele Zufälle im Spiel. Ich glaube, das muss man auch anerkennen. Kreativität heißt Ausnutzen von Zufällen. Und es ist in vielen Fällen nicht planbar. Ich glaube, das ist die wichtigste Botschaft: Kreativität kann man schlecht planen. Man muss Möglichkeitsräume eröffnen, um kreative Pflanzen wachsen zu lassen. Manchmal erweisen sie sich als Fehlschläge. Manchmal dürfen sie gar nicht wachsen, weil irgendjemand sagt: «Das kommt mir nicht in die Tüte. Das machen wir nicht». Dann muss man sich überlegen, ob man sich nicht besser wegbewegt. Wir haben ja Beine und können den Ort wechseln.
Stoischer Pirat: Sie haben es gesagt. Kreativität, wie auch Erfolg, ist nicht planbar. Es hat viel mit Zufall zu tun. Wir müssen Chancen nutzen. Damit wir die Chancen aber auch nutzen können, müssen wir auch die Augen offen haben.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Ein ganz wichtiges Merkmal für kreative Personen ist diese Offenheit für das, was links und rechts neben mir passiert. Kreative Personen sind nicht immer nur auf einen Punkt fokussiert, sondern haben einen grossen Suchraum und nutzen viele Möglichkeiten, Informationen auf Sicht einprallen zu lassen und vielleicht von irgendeiner Idee Gebrauch zu machen, die für völlig andere Zwecke gedacht war.
So kann es sein, dass ich beispielsweise irgendeine Theorie bei den Soziologen klaue, weil ich plötzlich denke, dass ich das, was die Soziologen da machen auch für mich nutzen könnte. Eine kreative Idee, die aber so kreativ gar nicht ist. Ich habe einfach nur die Augen offen gehalten und genommen, was mir in den Schoß fällt. Man muss es nur nutzen. Man muss die Idee ergreifen und sagen: «Lass mich das mal ausprobieren». Mut!
Stoischer Pirat: Sie haben sehr viele Interessen. Haben Sie auch noch Interessen, die man bei Ihnen gar nicht vermuten würde?
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Ich lese viel, auch viel Literatur von anderen Fächern und ich bin generell offen für alles. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Wir haben hier bei uns in Heidelberg ja eine tolle Fächervielfalt an der Universität. Da lehrt z.B. ein weltbekannter Assyriologe, der Professor Stefan Maul. Assyriologie, was hat die mit der Psychologie zu tun? Auf den ersten Blick würde man sagen gar nichts.
Stafan Maul hielt einmal einen tollen Vortrag über Orakel, über die Leberschau. 3 000 v. Chr.. haben die Assyrer irgendwelche Tiere zerlegt, um ihrem Chef sagen zu können, ob sie z.B. am folgenden Tag angreifen sollen oder nicht. Plötzlich konnte ich sehr enge Bezüge zur Psychologie feststellen. Diese Leberschauen sind Entscheidungshilfen, wie wir sie in der kognitiven Psychologie heute als Art Decision Support System kennen. Das ist zwar ein Decision Support System, das 3000 Jahre alt und aus heutiger Sicht nicht sehr zuverlässig.
Aber sind unsere modernen Decision Support Systems, wenn wir irgendwie Expertisen von 10 Fachleuten einholen, viel verlässlicher? Wir täuschen uns vielleicht darüber, wie fortschrittlich wir heute sind. Natürlich machen wir heute nicht mehr unsere Entscheidung abhängig von der Färbung einer Leber.
Aber die Expertisen und die Leber schauen haben gewisse Ähnlichkeiten, auch Strukturmerkmale. Und das ist z.B. sehr interessant, das herauszuarbeiten. Plötzlich merkt man, dass der Assyriologe in einem Thema rumstochert, das für uns vielleicht gar nicht so uninteressant ist und schon hat man einen Bezug zu einem anscheinend weit entfernt liegenden Nachbarfach, wo man doch angenommen hat, dass es zwischen Psychologie und Assyriologie keine Brücke gibt. Doch, die gibt es.
Stoischer Pirat: Wir haben gesagt Offenheit ist ganz wichtig. Der Mut ist wichtig. Wenn jetzt jemand gerne kreativer werden, welchen Ratschlag geben Sie ihr?
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Routinen aufbrechen! Das fängt schon bei meinem morgendlichen Arbeitsweg an. Nehme ich immer den gleichen Weg oder nehme ich auch einen Umweg. Vielleicht entdecke ich ja plötzlich ein interessantes Geschäft, das ich bislang nie gesehen habe. Das ist meine Empfehlung, nicht immer das Gleiche machen, sondern einfach mal das Risiko eingehen, einen kleinen Umweg zu nehmen. Vielleicht lohnt sich das, vielleicht auch nicht. Aber was kostet das schon? Und die Gewinnchance, dass man auf dem Weg, auf dem Umweg vielleicht irgendetwas entdeckt, was einem anregt, ist hoch. Einfach mal ausprobieren.
Also weg von der Routine und hin zu mutigen Schritten. Mal etwas machen, was ein bisschen unkonventionell ist und wo die Ehefrau vielleicht den Kopf schüttelt. Warum machst du das? Warum gehst Du nicht den kürzesten Weg? Ja, weil ich heute mal vielleicht einfach einen anderen Weg nehmen wollte, um zu sehen, wie es da aussieht.
Die Welt ist bunt um uns herum und wir müssten von diesen vielen Farben möglichst viel aufnehmen und dürfen uns nicht auf das Schwarze und Weiße beschränken, sondern müssen auch mal das Grüne und das Gelbe links des Films zur Kenntnis nehmen.
Stoischer Pirat: Das ist sehr schön. Das ist ein wichtiger Punkt. Offen sein. Das Schöne wahrzunehmen, neugierig sein, den Mut haben, aus der Komfortzone zu treten.
Aber wir sollten auch mit jenen Menschen, die Dinge ausprobieren, mit jenen Nonkonformisten weniger streng umgehen. Ich habe das Gefühl, dass die Nonkonformisten, die etwas ausprobieren recht rasch einen Schlag auf den Kopf erhalten.Wir sollten tolerantener mit Non-Konformisten sein.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Ich glaube, da müssen wir alle für sorgen, dass wir respektvoller miteinander umgehen und nicht einfach sagen das ist ein Idiot. Ja, dieser Nobelpreisträger war eben kein Idiot. Wir müssen miteinander respektvoll umgehen. Nicht alles was heute idiotisch erscheint, ist auch wirklich idiotisch. Als jemand gesagt hat, es wird bald keine Kutschen mehr geben, hat man sich das auch nicht vorstellen können.
Die Zukunft muss imaginiert werden, wir können Zukunft nicht linear extrapolieren, dass wir z.B. davon ausgehen, dass es immer mehr Autos gibt. Dis Schlussfolgerung muss nicht zwingend sein: Ich muss in der Stadt immer breitere Straßenbauamt, weil es immer mehr Autos gibt? Nein, ich muss mir vielleicht die Zukunft mal anders vorstellen. Autofrei. Wir müssen uns die Welt anders vorstellen. Wir brauchen Fantasie. Ich glaube, auch das ist für einen Kreativen erforderlich, dass ich ein bisschen Phantasie habe und mir mal vorstelle, wie könnte denn hier die Hauptstraße ohne Autos aussehen?
Stoischer Pirat: Also es gibt ja ein schönes Beispiel mit Paris. Mit dieser idee der «Ville de quarte heure» wo alles innerhalb einer Viertelstunde erreichbar sein sollte. wunderbar. Das stellt natürlich die gesamte Stadtplanung der letzten Jahrzehnte völlig auf den Kopf. Solche Ideen brauchen wir.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Genau. Wir brauchen wilde Ideen und manche davon werden sich nicht realisieren lassen. Aber wir brauchen viel Fantasie und wir brauchen vor allem die Offenheit, das zu ertragen und die Leute nicht gleich zu köpfen. Wenn ich mir solchen Vorschlägen kommen. Gerade deswegen brauchen wir in der Schule mehr Anregungen für Kreativität, weil es ist «the next generation», die muss unseren Planeten retten muss. Die ganz junge Generation wird sich anstrengen müssen, der hinterlassen wir einen ziemlichen Scherbenhaufen. Und dafür braucht es gute Ideen, um diesen Scherbenhaufen aufzuräumen.
Stoischer Pirat: Was haben Sie noch für ein kreatives Projekt?
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Ich habe ein kreatives Projekt, in dem es darum geht, wie gehen ältere Menschen mit Unterstützungstechnik um? Wir sind ja immer stärker auf Technik angewiesen. Ich bin in einem größeren Projektverbund, wo wir uns mit Technik für ältere Menschen beschäftigen. Wie kann man Technik den älteren Menschen so zugängich machen, dass sie deren Bedürfnisse trifft? So, dass ältere Menschen diese Technik auch wirklich nutzen können. Das beschäftigt mich. Ist wohl auch altersbedingt.
Stoischer Pirat: Danke viel mal, dass Sie sich die Zeit genommen haben mit mir über Kreativität zu sprechen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Danke, dass sie mich eingeladen habe. Ich habe ja auch ein wenig Herzbut für dieses Thema. Ich bin überzeugt, dass wir in der Richtung einfach mehr tun müssen und unsere Gesellschaft ein bisschen mehr auf solche kreativen Prozesse ausrichten sollten. Das heißt, wir müssen unsere Gesellschaft ein bisschen angstfreier machen, mutiger und offener machen. Wir werden ja auch politisch geängstigt und gehen deswegen auf sehr konservative Vorstellungen. Das macht mir ein bisschen Sorge. Das ist für unseren Planeten nicht gut..
Stoischer Pirat: Wir haben ja auch in der Politik diese Polarisierung. W o kein Dialog mehr stattfindet, kein gemeinsames Denken, und somit keine neue Ideen entwickelt werden könnenEs ist ein ideologischer Streit und das macht mir schon etwas Sorgen. Also so wie das jetzt abgeht.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Genau das ist sowohl an den Schulen ein Thema, aber auch an den Universitäten, wo wir ja zum Teil Curricula haben, die einfach aus dem letzten Jahrhundert stammen und die gar nicht mehr zeitgemäß Themen adressieren. Nehmen wir die Volkswirtschafts- oder Betriebswirtschaftslehre. Die sind ja immer noch an diesen alten Wachstumsmodell orientiert. Wirtschaft muss jedes Jahr um mindestens drei Prozent linear steigen und dafür muss ich immer mehr Profit, immer mehr Gewinn machen, höhere Effizienz haben. Das ist ein Teufelsbraten. Das kann nicht funktionieren. Und wir haben alternative Ansätze. Gemeinwohl-Ökonomie und wie sie alle heißen. Zirkularökonomie, die man eigentlich unterrichten könnte, machen wir natürlich noch nicht. Es wird einfach business as usual gemacht. Und genau das ist ganz schrecklich. Darüber kann ich mich ehrlich gesagt ärgern. Hochschulen aber auch normale Schulen sind die Orte, an denen Entwicklungsprozesse angestossen werden sollten. Dort müssen wir die Samen säen, die später aufgehen. Aber wenn wir das schon an der Universität nicht schaffen, wie soll das dann an den normalen Schulen gehen? Wir brauchen mehr Mut. Wir brauchen Lehrer, die mutig sind, die sich was getrauen, auch wenn sie dann Ärger mit dem Direx bekommen.
Stoischer Pirat: Ich denke, wir müssen auch viel adaptiver sein. Je grösser die Organisation, desto starrer ist diese. Früher, Mitte des 20. Jahrhunderts war gross und stark positiv. Heute reicht es nicht gross zu sein, man muss auch agil sein.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Wir müssen agil sein. Ich glaube, die Veränderung in unserer Gesellschaft geht im Moment so schnell, dass die Institutionen da gar nicht mitkommen. Die haben eine grosse Trägheit, währendem die Veränderungen in den gesellschaftlichen Prozessen ungeheuer hoch ist. Genau das, was sie eben geschildert haben. Für uns ist das heute ganz selbstverständlich, dass das iPhone hier bei mir auf dem Tisch liegt und ich jederzeit erreichbar bin. Das war für mich vor 20 Jahren eben auch nicht selbstverständlich.
Stoischer Pirat: Und das ändert. Deshalb müssen wir einfach anpassungsfähig sein und deshalb braucht es eben Kreativität. Mir hat sehr gefallen, dass sie von der Wichtigkeit der Freiheit gesprochen haben. Ich empfinde diese ständige Regulation als extrem störend und einengend. Ich sage jeweils «Strangulation durch Regulation», man nimmt den Leuten die Luft weg, sei es bei der Arbeit, in der Schule, aber im Staat, weil alles so stark reguliert ist.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Ich könnte Ihnen viele Beispiele aus der Welt der Hochschulen erzählen. Was wir hier für Regulative haben! Die Freiheit der Forschung besteht nach dem Grundgesetz natürlich nach wie vor. Aber wir haben so viele Einschränkungen, so viele Vorgaben, so viele Regeln. Ich bin ziemlich sicher, egal was ich mache, ich mache etwas falsch.
Stoischer Pirat: Und dann hat man Angst, etwas falsch zu machen und macht nichts mehr.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Das ist doch ganz schrecklich. Und das ist ein Kreativitätskiller. Diese vielen Regulative, die wir haben. Vorschriften, Normen. Ich verstehe das. Aber das ist ja eine Folge des Misstrauens, dass man mir nicht zutraut, dass ich vernünftig entscheide. Meine Verwaltung denkt, wenn ich einen Antrag für eine Dienstreise stelle, will ich nur betrügen. Sofort will sie alle Belege. Wenn ein Beleg ein bisschen merkwürdig aussieht, muss ich dreimal Erklärungen abgeben. Ich erinnere mich noch. Ich hatte vor vielen Jahren einen Ruf an die Universität Basel und als ich da fragte, wie wir es mit den Reisekosten machen, hat der Präsident der Basler Universität gesagt: «Herr Funke, reichen Sie einfach ihre Unterlagen ein und wir erstatten die.» Ich war ein bisschen überrascht. Von deutschen Universitäten her kannte ich das ganz anders. Mir wurde erklärt, dass man in Basel stichprobenartig in 10 Prozent der Fälle überprüft, in 90 Prozent lies man es einfach durchgehen, weil man den Leuten vertraute..
Stoischer Pirat: Das gilt doch generell für die Führung. Man muss doch seinen Mitarbeitern vertrauen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Ich glaube, man muss einfach viel mehr Vertrauen zeigen. Und dieses Misstrauen, was mir in all den Vorschriften und Regulativen begegnet, ärgert mich und ist ein Kreativitätskilller
Stoischer Pirat: Absolut. Ich danke Ihnen herzlich für dieses Gespräch
Prof. Dr. Dr. h.c. Funke: Es hat mich gefreut, mit Ihnen zu reden. Es hat mir Spaß gemacht. Machen Sie weiter mit. Mit diesem schönen Projekt. Alles Gute.
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